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Jom Kippur 5778
01.September 2017 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage
Gedanken zum Versöhnungstag von Gemeinderabbiner Jonah Sievers
Schneller als wir es immer erwarten, nähert sich der Höhepunkt unseres Festkalenders: Jom Kippur.
Es stellt sich jedoch die Frage, warum wir Jom Kippur eigentlich benötigen? Sie werden ob dieser Nachfrage vielleicht etwas verdutzt sein, denn immerhin ist es doch der Tag, an dem wir uns mit dem Ewigen versöhnen sollen. Ganz davon abgesehen, dass Jom Kippur unmissverständlich in der Tora als höchster Feiertag vorgeschrieben ist. Ja, aber warum hat der Ewige diesen Tag eingeführt, wenn doch eine der grundlegendsten Lehren des Judentums beinhaltet, dass man immer und zu jeder Zeit, selbst noch Sekunden vor dem Tod, G’tt behüte, zu G’tt umkehren kann, Teschuwa zu machen. Darüber hinaus umfasst das tägliche Gebet eine Vielzahl an Bitten um Vergebung: z.B. in der Wochentagsamidah und im Tachanun. Wenn dem so ist (und es ist so), warum wird der Versöhnung mit G’tt dann ein ganzer Tag zugedacht?
Eine Erklärung, die mich beeindruckt hat, beruht auf einer Beobachtung des Rabbiners Soloveitchik. Er beschreibt in seinem Essay »The Lonley Man of Faith«, dass die zwei Schöpfungsberichte, die wir am Anfang der Torah finden, auf zwei besondere Eigenschaften des Menschen hindeuten.
Adam 1, so Soloveitchik, wird im Angesicht des Ewigen geschaffen. Wir erfahren nichts über seinen Körper. Adam wird befohlen, sich zu vermehren und über die Erde zu herrschen. Auch erfahren wir, dass Mann und Frau gleichzeitig geschaffen werden. Soloveitchik nennt diesen Adam 1 »majestic man«. Adam 1 erstellt Werkzeuge, entwickelt die Wissenschaft und geht ganz pragmatisch mit Situationen, Dingen und der Welt um; diese Herangehensweise spiegelt sich auch in seinem Verhältnis zu G’tt wieder. »Sein Geist fragt nicht nach der Wahrheit, sondern nach dem Angenehmen und Funktionellen, welches in der Ästhetik und nicht in der Ethik verwurzelt ist.«
Adam 2 jedoch wird anders dargestellt. Er wird aus Erde geschaffen und wir erfahren, wie der Ewige ihm die Neschama, seinen Geist, einhaucht. Adam 2 wird beauftragt, die Erde zu erhalten und zu kultivieren. In dem zweiten Bericht der Tora erfolgt die Schöpfung von Mann und Frau nacheinander. Diesen Adam 2 nennt Soloveitchik »covenantal man«, der die Verbindung zum G’ttlichen und zu Anderen sucht. Adam 2 fragt nach dem Sinn der Dinge und geht ihnen von daher auf den Grund.
»Der zweite Adam lebt in enger Verbundenheit mit G’tt. Seine existenzielle ‚Ich’-Erfahrung ist kommunikativ verwoben mit dem großen Selbst (also G’tt, Anm. des Übersetzers), dessen Fußabdrücke er auf dem steinigen Pfad der Schöpfung entdeckt.
Adam 1 und Adam 2 sind hierbei natürlich keine zwei Personen, sondern zwei unterschiedliche Aspekte in jedem von uns und beide Perspektiven sind für unser Leben nötig!
Für die meisten von uns ist es jedoch so, dass Adam 1, der rationale, pragmatische, die Welt erkundende und verändernde Aspekt, zumeist die Oberhand hat. So sprechen wir auch häufig unsere Gebete, einschließlich der Bitten um Vergebung, als Adam 1 und nicht als der mit G’tt verbundene Adam 2. Vielleicht geht es auch gar nicht anders, weil wir sonst innerlich nur in »Sack und Asche« durch die Welt ziehen würden. Dabei unterstelle ich kein Spiel, keine Heuchelei. Wir wollen es richtig machen, nur schaffen wir es nicht immer. Der Adam-1-Aspekt hat uns fest im Griff.
Adam 2 will diese Verbindung zu G’tt, ja er sehnt sich geradezu danach. Deshalb ist Jom Kippur nötig, deshalb brauchen wir diesen besonderen Tag. Jom Kippur erfüllt diese Sehnsucht. Dieser Tag dient unserem inneren Adam 2. Einen ganzen Tag, ohne Ablenkung, können und müssen wir uns mit unserem Verhältnis zu G’tt auseinandersetzen. Müssen in uns gehen, welche Blockaden sich im vergangenen Jahr aufgebaut haben und uns aufmachen, diese Hindernisse aus dem Weg zu räumen, als Teschuwa, Umkehr zu üben! Für unser Leben sind beide oben genannten Aspekte nötig, nur leider vernachlässigen wir zu häufig den Adam 2 in uns.
Nutzen wir diesen Jom Kippur, um uns dieser Seite in uns wieder zu nähern.
Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien
ein gebenschtes neues Jahr 5778.
Chatima Towa!
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