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Jeder kann zum Täter werden
27.Februar 2009 | Beiträge – jüdisches berlin | Politik
Bei der Konferenz »Täterforschung im globalen Kontext« war man sich einig, dass nur der gleichzeitige Blick auf Opfer und Täter die Frage nach dem »Warum?« des Holocaust erhellen kann.
Nach einer ersten Konferenz 2006 (jb 1/07) hat die Bundeszentrale für Politische Bildung auf ihrer zweiten Berliner Tagung zur Holocaust-Forschung 2009 den Fokus von den Opfern auf die Täter gerichtet. Längst ist klar, dass das Konstrukt »distanzierte Schreibtischtäter« (Stichwort »Banalität des Bösen«) und »sadistische Einzeltäter« (mit schwerer Kindheit oder perverser Veranlagung) zu simpel ist. Es taugt so wenig wie andere eindimensionale Modelle, die (man denke an die Goldhagen-Browning-Kontroverse) »materielle« »ideologischen« Motiven gegenüberstellen oder das »Zentrum« der »Peripherie «. Solche Gegensatzpaare schließen sich nicht aus, sie beleuchten nur unterschiedliche Aspekte der Realität. Menschen handeln im Rahmen sozialer Rollen, die sich je nach Kontext verändern. Es gibt keinen homogenen Tätertyp. Zu unterschiedlich sind Altersgruppen, soziale Milieus, Bildungsherkünfte und Biografien (Himmler und Goebbels etwa hatten völlig unterschiedliche Lebensläufe). Jeder kann zum Täter werden. Und jede Gesellschaft ist unter bestimmten Umständen zu Terror und Genoziden fähig. Wichtig sind der »Referenzrahmen« (H. Welzer), die politischen, sozialen, gesellschaftlichen Bedingungen, die Situationen und Konfigurationen, in denen wir (inter-)agieren. Nur damit wird erklärbar, warum Hochmotivierte genauso mordeten wie Menschen, die der rassistischen Weltanschauung eher leidenschaftslos gegenüber standen oder warum jemand, der in einer Situation hingebungsvoll mit einem Kind spielt, in einer anderen zum Monstrum wird. Die Ansätze verschiedenster Disziplinen müssen kombiniert werden, um Erklärungen für jene »tragische Leichtigkeit« (G. Tillion) zu finden, mit der Menschen zu Mördern wurden. Insofern war die Tagung auch ein Sammelsurium von Erkenntnissen über »willige und unwillige Vollstrecker« und darüber, wie die Grenzen zwischen Tätern und Opfern verschwimmen (können).
So ging es unter anderem um die arbeitsteilige, für beide Seiten profitable Kollaboration der Ukrainer, die erst 12 000 Juden in Pogromen umbrachten und später für die Deutschen die Schmutzarbeit vor Ort erledigten. Am Beispiel der Pol Pot-Massaker in Kambodscha wurden Kulturspezifika anthropologisch beleuchtet. Im Zusammenhang mit den »ethnischen Säuberungen« in Ex-Jugoslawien, als 1991 »aus Taxifahrern und Beamten Mörder wurden«, stellte Marie Calic heraus, dass die hinterher aktivierten Rationalisierungs- und Legitimierungsmotive denen der NS-Täter glichen. Auch in Jugoslawien hatten viele vor dem Krieg keine nationalistischen Attitüden, auch hier wurde das Morden ideologisch vorbereitet, wurde die Abstumpfung um so größer, je länger es dauerte. Und auch hier gehörte die Mehrheit in jene amorphe Kategorie der Mitläufer, die aus Angst, Pflichtgefühl, Konformismus, vermeintlichem Befehlsnotstand oder Karrierismus handelten. Bei der Frage, welche besonderen Umstände und wie weit die Anordnung/Billigung staatlicher Akteure dies begünstigen, ist man sich in Bezug auf den Nationalsozialismus einig, dass die Zeit zwischen 1933 und 39 genauer als bisher zu untersuchen ist, als die Institutionen entstanden und sich radikalisierten, die später die Vernichtung organisierten. 1933 wären öffentliche Deportationen noch nicht möglich gewesen. 1936 bedeutete »Endlösung« noch nicht Massenmord, sondern dass die Juden »gehen« sollten und man an ihr Geld kam. Die Desensibilisierung passierte schrittweise. Die Alltagsdimension dieser »moralischen Umformatierung« ist wichtig – ab wann wechselte man die Straßenseite, weil sich das Klima geändert hatte, wieviele kleine »Bauchschmerzen « brauchte es, bis man nichts mehr dabei fand, dass die früheren Freunde mit Schildern um den Hals durch die Straßen getrieben wurden?
Michael Wildt legte dar, wie früh schon, im März 33, der öffentliche Raum genutzt wurde, um Gewalt als Routine zu etablieren und eine Positionierung des Einzelnen einzufordern. Ein militanter Kern definierte die Regeln selbst – mit dem öffentlichen Zerstören von Läden oder Verprügeln von Juden wurde ausgetestet, ob die Polizei sich heraushielt, wie weit man gehen und andere mit hineinziehen oder sogar Applaus bekommen konnte.
Die Ausschließung der Juden war von Anfang an zentral, schließlich war das Ziel die homogene Volksgemeinschaft. Der Antisemitismus begründete den NS-Herrschaftsanspruch und schuf eine Art »konvertierbare Währung« (D. Stone), auch für Osteuropa. Peter Longerich verwies auf die Komplexität der Etappen der Judenverfolgung, deren Durchsetzung einen ganzen Institutionenapparat brauchte, was wieder innen-, außen-, kulturpolitische und ökonomische Rückwirkungen hatte und etliche Politikfelder bis zur Umdefinierung beeinflusste (wie die Veränderung der Sozialpolitik im »volksbiologischen« Sinn). Die Präzedenzlosigkeit der so entstehenden »Judenpolitik « brauchte wiederum Akteure mit Eigeninitiative und Kreativität, schließlich gab es keine Erfahrung mit dem Morden im industriellen Maßstab. Komplexität bedeutet auch, dass keine Einzelentscheidung zur »Endlösung« führte, keine Ausführung einmal gefällter Beschlüsse, sondern eine Kette fortgesetzter Entscheidungen mit vielen Eskalationsstufen. Die deutsche Führung war täglich neu abhängig vom Verhalten der Bündnispartner, der Verwaltungen und der jeweiligen Bevölkerung (so konnten die bulgarischen Juden mehrheitlich gerettet werden, die ungarischen nicht). Und auch die Juden selbst kommen in der zweiten Kriegshälfte als Faktor ins Spiel – mit zunehmenden Flucht-, Widerstandsund Verhandlungsaktionen. Alles Untersuchungsfelder, auf denen noch viel Arbeit wartet...
Die Konferenz sollte aber auch zeigen, wie die Erkenntnisse sich in der Bildungspraxis niederschlagen. In der Gedenkstättenarbeit begannen erst in der 80er Jahren Institutionen wie die Topografie des Terrors und das Haus der Wannseekonferenz auf die Täter zu fokussieren, was heute alle Gedenkstätten tun (wie etwa Ravensbrück mit Arbeiten zum weiblichen Wachpersonal). In Schulbüchern sind Täterprofile hingegen immer noch selten. Studien an staatlichen, christlichen und jüdischen Schulen ergaben zudem, dass es fatalerweise fast immer nur um eine Identifikation mit den Opfern geht, nie um die eigene Fähigkeit zur Täterschaft. »Die Täter« sind »böse«, »nicht normal« oder Atheisten, also etwas, was »wir« auf keinen Fall sind. Bei muslimischen Migranten fiel umgekehrt auf, dass sich einige mit Tätern identifizieren, weil die Männlichkeit repräsentieren, oder dass sie diese aus einer Erinnerungskonkurrenz heraus positiv beurteilen.
In einer Analyse des ZDF-Programms kam Wulf Kansteiner zu dem Ergebnis, dass die Täter im TV jahrzehntelang entweder gut weg oder gar nicht erst vorkommen. Die 68er wären »visuelle Analphabeten « gewesen, die in den 90ern Guido Knopps »Geschichtspornografie « das Felde überlassen hätten. Aber auch bei Knopp sind die Täter selbst kaum sichtbar oder den Opfern gleichgestellt – sie sitzen auf dem selben Stuhl, vorm selben Hintergrund, mit der selben Kameraeinstellung. Ansonsten kümmert man sich um die Verbrechen der anderen, bewundert Goebbels Propagandaleistung, zeigt Hitlers Jugend und Untergang; dazwischen ist scheinbar nichts geschehen. In erster Linie geht es darum viele Zuschauer anzuziehen, Geld zu verdienen: mit reichlich NS-Originalmaterial, großen Aufmärschen, dramatischer Musik, Emotionen, Tränen – Geschichte als Happening. Das Konzept geht auf.
Judith Kessler
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