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Jazzklub und Mauthausen
01.März 2008 | Beiträge – jüdisches berlin | Menschen
Die Odyssee des jüdischen „Zigeuner“-Musikers Oskar Siebert
Der hübsche junge Musikstudent wird bei der Kriminalpolizei als „Zigeunermischling plus“ registriert, nachdem er im April 1941 mit seinem jüngeren Bruder Egon, Vater Erwin Siebert, einem Geigenbauer und deutschen „Zigeuner“ und Mutter Alexandra Gutkina, einer russischen Jüdin (die er 1918 als deutscher Kriegsgefangener in Moskau kennen gelernt hatte), verhaftet und zur Rassehygienischen Forschungsstelle in Dahlem gebracht wurde. Da ist Oskar Siebert 17 Jahre alt und spielt nachts Geige oder Gitarre in Bars und Klubs, seit die Rassegesetze ihn aus dem Musikkonservatorium verbannt haben. Ein halbes Jahr später werden er und Egon „abgeholt“. Mit anderen jungen jüdischen Männern werden sie in Viehwaggons wochenlang über Wuppertal und die Eifel durch halb Deutschland gefahren. Die Fahrt endet in Österreich, im KZ Mauthausen. Die Jungs müssen in einem Steinbruch schuften, in dem jeden Tag Menschen vor Erschöpfung sterben oder tot geprügelt werden, bis der SS-Wachmannschaft der Sinn nach abendlicher Privatunterhaltung steht und sie eine illegale Kapelle zusammenstellen. Oskar wird mit anderen Musikern aus Berlin, Hamburg und Prag ausgesucht, die Instrumente lässt die SS in einem Musikladen requirieren, die Bandmitglieder werden von der Knochenarbeit im Steinbruch befreit und müssen nun in der Küche Kohl schneiden und Kartoffeln schälen, damit sie abends fit sind und sich die Hände nicht verletzen. Dass Oskar seinem Bruder nicht helfen kann, der weiter im Steinbruch ist und von Tag zu Tag schwächer wird, das wird ihn sein Leben lang verfolgen.
Oskar und seine Kollegen haben deutsche, aber auch die streng verbotene amerikanische „Negermusik“ für die SS zu spielen. Das geht fast zwei Jahre so. Sie werden sogar auf einen „Ausflug“ nach Theresienstadt geschickt, um an der „Heile-Welt-Inszenierung“ der Nazis für die inspizierende Rot-Kreuz-Delegation teilzunehmen. (So wie sie gab es noch diverse andere Kapellen in Mauthausen, sogar eine „Zigeunerkapelle“ und ein lagereigenes Sinfonieorchester.) Oskar verliebt sich in eine russische Kriegsgefangene, die jedoch eines Tages „verschwindet“: abtransportiert nach Osten. Im Herbst 1943 kommen auch Oskar und Egon auf einen Transport – der geht jedoch nach Westen. Die jungen Männer sollen im Rahmen der „Aktion Hase“ die Organisation Todt stärken. Sie werden in französische Uniformen aus dem 1. Weltkrieg gesteckt und müssen wie andere Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene Schützengräben und Bunker ausheben, erst in Frankreich, dann in Holland. Die unbewaffneten Männer sterben wie die Fliegen, sie werden von Jagdfliegern und Partisanen beschossen. Die Bruder sind unzertrennlich, doch eines Tages wird Egon doch an einer anderen Stelle eingesetzt – und von einem SS-Mann totgeschlagen. Noch heute leidet Oskar darunter, seinen Bruder allein gelassen zu haben.
Ende 1944 gibt es im Westen nichts mehr „zu retten“: der Rest der Gruppe wird nach Mauthausen zurückgebracht. Dort ist der SS inzwischen die Lust auf Musik vergangen. Im März kann Oskar fliehen und kommt fast zeitgleich mit den Russen wieder in Berlin an...
Siebert lernt Nikola Bersarin kennen, er wird in Alliiertenklubs und beim RIAS Berlin spielen, heiraten, Vater werden, in die USA emigrieren, Arnold Schönberg treffen, Country, Swing und dann Jazz bei Tommy Dorsey spielen und doch nach Berlin zurückkehren, in das Land, das keine Juden und Zigeuner haben wollte.
Es ist bedauerlich, dass Überlebende wie Oskar Siebert keinen Verlag finden, der ihre Geschichte druckt. Aber Oskar hat Freunde. Mit Hilfe von Constanze Jaiser, Jacob David Pampuch und Dirk Geldmacher hat der heute bald 85-jährige Musiker sein Leben aufgeschrieben. Ihrem Buch ist eine CD mit Ton- und Musikaufnahmen Sieberts beigelegt.
Judith Kessler
_Oskar Siebert: „Ich spielte um mein Leben“. Von der illegalen Musikkapelle in Mauthausen zum Berliner Tanzorchester. Eigenverlag 2008, 151 S. + CD. 16,-, Tel. 213 78 98, j.pampuch@tiscalinet.de
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