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In Schöneberg im Monat Mai...
01.August 2011 | Beiträge – jüdisches berlin | Aktivitäten, Orte
Der Verein »Quartier Bayerischer Platz« möchte das Bayerische Viertel wieder attraktiver und auch dessen jüdische Vergangenheit bekannt machen
Am Rathaus Schöneberg versammelten sich die Westberliner, um Kennedy zu feiern und sich von ihm feiern zu lassen (»Ich bin ein Berliner«), um gegen den Bau der Mauer zu protestieren und die Wiedervereinigung zu bejubeln. Doch seit die Landesregierung weggezogen ist, ist es ruhig geworden in der Gegend… Der 2007 gegründete Verein »Quartier Bayerischer Platz« setzt angesichts leerer öffentlicher Kassen auf Bürgerengagement, möchte die Attraktivität des Kiezes steigern und seine historische Einzigartigkeit in das öffentliche Bewusstsein bringen. Schließlich wohnten hier einst Albert Einstein und Wilhelm Reich, Nelly Sachs und Helmut Newton – neben vielen anderen Berühmtheiten. Der Verein hat bereits dafür gesorgt, dass das Herz des Viertels, der Bayerische Platz, wieder eine geschützte Grünanlage ist und hat einen Fragebogen entworfen, der die Bedürfnisse der Anwohner ausloten soll.
Ende Mai öffneten zum wiederholten Male auf Initiative des Vereins hin 50 Geschäfte und Praxen rund um den Platz zu einem »Langen Freitag«. Vom libanesischen Gemüsehändler bis zum Friseur, Floristen, Fleischer, Sattler, Optiker und Galeristen ließen sich alle etwas einfallen: Kirschkern-Weitspucken in der Zahnarztpraxis, handgemachte Schokoküsse, ein neuseeländischer Kampftanz vom Frauensportstudio, ein Konzert mit den »Blue Elephants«-Bläsern der Neumark-Schule und reichlich Maibowle.
Zu besichtigen war auch ein Modell der Architekten (und Anwohner) Andrea und Wilfred van der Bel für die Neugestaltung des U-Bahnhofs Bayerischer Platz. Denn der Verein möchte dessen ungenutztes Seitengebäude in einen Informationspavillon für Touristen und Schulklassen umwidmen, die sich über das einstige jüdische Leben und die aktuellen Kulturangebote im Kiez informieren wollen. Über die Vereinshomepage sollen auch Führungen in verschiedenen Sprachen angeboten und auf dem Bahnhof selbst historische Fotos (auch) auf die jüdische Vergangenheit des Viertels hinweisen.
Die reicht bis in das 19. Jahrhundert zurück, als die Vorortbezirke um die Gunst neuer Bewohner aus Berlin buhlten und der Schöneberger Baulöwe Salomon Haberland und sein Sohn Georg die Konkurrenz mit Modernitäten ausstachen: elektrisches Licht, Fahrstühle, prächtige Wohnungen mit bis zu zwölf Zimmern (die nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg oftmals in Pensionen umgewandelt wurden), effektvolle Fassaden, schöne Plätze und Straßengrün. (Haberland Juniors Bayern-Spleen ist es zu verdanken, dass das Viertel außerdem reich gesegnet ist mit Türmchen, Fachwerk, Schindeln und Straßennamen von Rosenheim bis Passau.) In Schöneberg gab es moderne reformpädagogische Schulen, bereits seit 1866 den Lette-Verein für die Ausbildung von Mädchen und Frauen, seit 1873 das Pestalozzi-Fröbel-Haus und seit 1908 Alice Salomons Soziale Frauenschule. Ein Jahr später wurde die Synagoge in der Münchener Straße gebaut. Und selbst Schönebergs Nationalhymne »Es war in Schöneberg im Monat Mai« hatte ein Jude, Rudolf Bernauer, gedichtet. 1933 wohnten mehr als 16 000 Juden hier…
Wie besonders das Bayerische Viertel ist und wie viel jüdisches Leben hier einst war, wurde auch am Langen Freitag deutlich, als diverse Initiativen ihre Arbeit vorstellten. Die 88-jährige Inge Deutschkron, die sich hier einst vor den Nazis versteckte, hielt einen Vortrag über das »Lachen in der Not«. Die Wanderausstellung »Dem Leben hinterher – Fluchtorte jüdischer Verfolgter« wurde eröffnet (sie ist bis Ende September in Marcus Siekmanns »Berliner Jahreszeiten Salon« in der Meraner Straße 7 zu sehen). Und auch die ambitionierte Dauerausstellung »Wir waren Nachbarn« im Rathaus Schöneberg ist nur 500 Meter Luftlinie von hier entfernt. 25 Jahre Arbeit stecken hinter dieser wohl einzigen Einrichtung, die eine derart kontinuierliche und biografiebezogene Erinnerungsarbeit betreibt. Denn den Häusern am Bayerischen Platz ist nicht anzusehen, welche Tragödien sich hier abspielten, obwohl in jedem zweiten Haus Juden lebten. Zu den 6 300 Karteikärtchen mit den Namen und Adressen der Deportierten gibt es inzwischen 134 Alben mit Lebensgeschichten jüdischer Schöneberger – aber eben nicht nur berühmter wie Emanuel Lasker oder Reich-Ranicki (der hier zur Schule ging), sondern der »Nachbarn von nebenan«. Ein Förderverein »frag doch!« unterstützt die Arbeit und versucht, die Ausstellung zu erhalten und zu erweitern; auch er suchte am Langen Freitag nach neuen Unterstützern.
Ebenso ungewöhnlich (und gut besucht) ist die zweite Schöneberger Aktion: die »Orte des Erinnerns«, die Renate Stih und Frieder Schnock 1993 in den Straßen rund um den Platz installierten. Eine damals völlig neue Annäherung an das Thema. An 80 Laternenmasten hängen vor Häusern und historischen Plätzen Doppelschilder – eine Seite jeweils mit harmlos-alltäglich wirkenden piktogrammartigen Bildern, die andere mit kurzen Auszügen aus Verordnungen oder Gesetzen, die die schrittweise Entrechtung der Juden in der NS-Zeit zeigt.
Gudrun Blankenburg hat unlängst einen Stadtführer geschrieben, der sich ebenfalls dem einstigen liberalen Bayerischen Viertel widmet, dem »Industriegebiet der Intelligenz«, der »Jüdischen Schweiz«… Sie signierte am Langen Freitag ihr Werk, das den passenden Untertitel »Leben in einem Geschichtsbuch« trägt. Überzeugen kann man sich davon spätestens beim nächsten Langen Freitag am 3. September, unter dem Motto »Grünflächen-Tag auf und rund um den Bayerischen Platz«.
Judith Kessler
_www.quartier-bayerischer-platz.de
_www.hausamkleistpark-berlin.de
_www.fragdoch-verein.de
_www.berlin-spuren.de, www.baesslerverlag.de
_Blankenburg, Gudrun: Das Bayerische Viertel in Berlin-Schöneberg. Bäßler Berlin 2010, 11,95
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