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»In one hour« oder in drei Tagen

01.Juni 2010 | Beiträge – jüdisches berlin | Kultur, Aktivitäten

Das dritte deutschlandweite Limmud-Festival am Werbellinsee

Es ist ein bisschen still in der Disko, hier und da wird verhalten gemurmelt, die Bühne skeptisch beäugt. In kleinen Grüppchen stehen und sitzen sie auf den Bänken unter den bunt bemalten Wänden. Müde von der Anreise, gespannt aufs Wochenende. Dann geht es los. Schauspieler Wachtang ­Budagaschwili moderiert souverän deutsch, russisch, englisch und hebräisch. Aaron Eckstaedt spielt jiddische Lieder auf dem Akkordeon, ein russisches Ehepaar ersetzt mit Geige und Keyboard ein ganzes Orchester und Rabbiner Walter Rothschild rappt sich humorvoll durch jüdische Alltags­ probleme – vom chassidisch gewordenen Cousin zu der Schwierigkeit einen Minjan zusammenzubekommen.

Es ist der erste Abend des jüdischen Lernfestivals Limmud.de am Werbellinsee bei Berlin, das im Mai zum dritten Mal stattfand. Limmud (Hebräisch für Lernen) ist eine aus England stammende Organisation, die alters- und strömungsübergreifend jüdisches Lernen fördern möchte. »Es ist das Ziel, jeden auf seinem jüdischen Weg einen Schritt weiter zu bringen«, erklärt Toby Axelrod, Vorsitzende von Limmud Deutschland. Und sie ist sicher, dass das auch dieses Jahr gelungen ist. »Ich glaube, wir haben große Fortschritte gemacht und alle hatten eine gute Zeit.«

Vier Tage wurde fernab von Stadt und Stress gemeinsam gelernt, gebetet und gelebt. Mit Gottesdiensten aller Ausprägung und Workshops zu Religion, Kultur, Geschichte, Politik und Philosophie war für jeden der etwa 400 Teilnehmer etwas dabei, meist dreisprachig und mit Übersetzern.

So erzählte »Nazijäger« Efraim Zuroff, der Direktor des Simon-Wiesenthal-Zentrums (der eigentlich Basketballspieler werden wollte), wie er beispielsweise Dinko Šakić fand, einen  berüchtigten Aufseher im kroatischen KZ Jasenovac. Ein anderer Star des Wochenendes war György Dalos, Preisträger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung 2010, der über den aktuellen Antisemitismus in seiner Heimat Ungarn sprach.

Wild diskutiert wurde auf den Podiumsdiskussionen. Vor allem beim Thema religös-säkulärer Dialog prallten Meinungen aufeinander – unter anderem saßen hier »Paidea«-­Gründungsdirektorin Barbara Spectre,­ die den Respekt der jüdischen Gemeinden ihren säkularen Mitgliedern gegenüber einforderte, und auf der »anderen« Seite Ismar Schorsch, langjähriger Direktor des Jewish Theological Seminary New York. Aber nur kurze Zeit später konnten alle Streithähne beim viel gelobten, natürlich koscheren Essen, beim israelischen Tanz oder Judaica-Töpfern wieder zusammen lachen. »Ich bin wirklich froh, dass wir Menschen mit verschiedenen Hintergründen hier haben und sie miteinander sprechen«, so Programmdirektorin Julia Itin.

Fotos: Judith KesslerFotos: Judith KesslerFotos: Judith KesslerFotos: Judith KesslerFotos: Judith KesslerFotos: Judith KesslerFotos: Judith KesslerFotos: Judith KesslerFotos: Judith KesslerFotos: Judith KesslerFotos: Judith KesslerFotos: Judith KesslerFotos: Judith KesslerFotos: Judith KesslerFotos: Judith Kessler

»Es ist großartig. All diese unterschiedlichen Leute und Richtungen, das findet man im Alltag normalerweise ja nicht. Ich hätte mir noch mehr Interaktives gewünscht, damit man noch mehr ­Leute kennen lernt«, meint Larry Schild. Es ist sein erstes Mal bei ­Limmud. Ansonsten fand er es »Cool, sehr gut!«. Besonders gefiel ihm David ­Solomon, der mit seinem »In one hour«, also »Alles in einer Stunde«-Konzept in jeweils 60 Minuten große Themen wie »Jüdische Philosophie« oder »Jüdische Geschichte« zusammenfasst, mit viel Enthusiasmus, Körper­einsatz und Witz, denn: »Ibn Gvirol ist nicht nur eine Straße in Tel Aviv, sondern der wahrscheinlich wichtigste neo-platonische Denker des Mittelalters.«

»Die ausländischen Gäste hatten natürlich besonders viel Zulauf, weil sie exotisch sind«, weiß auch Toby ­Axelrod. Das gilt für Autorin Lisa
Klug (»Cool Jew«), die neueste Trends der amerikanisch-jüdischen Popkultur vorstellte, wie für Rabbinerin Ruth Kagan, die die Teilnehmer auf kabbalistische Weise auf den Schabbat vorbereitete.

Zeitgleich wurden draußen Leinen rund um Speisesaal, Seminarhaus, Disko und einige Häuser gespannt. Ein Eruw, eine Schabbatgrenze musste her, innerhalb derer man unter anderem auch am Schabbat Dinge tragen darf. Eigentlich sollte es dazu einen Workshop mit dem orthodoxen Rabbiner Avichai Apel geben, doch der kam später als erwartet, also begannen die Männer schon mal zu bauen, einige Rabbiner kontrollierten und als letztlich Apel, Vorstandsmitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz, ihn ebenfalls für gut befunden hatte, begannen die Gottesdienste. Je nach gusto wurde mit Avichai Apel express orthodox gebetet, mit Renewal-Kantorin Jalda Rebling gesungen, egalitär mit Gesa Ederberg oder reformiert mit Walter Rothschild gefeiert.

»Wir wollen, dass sich jeder, ganz gleich mit welchem Hintergrund, bei uns wohl fühlt«, erklärt Axelrod das Limmud-Prinzip.

Und weil das Wetter draußen schlecht war, saßen viele im Schuk-Café zusammen über einer Tasse Tee, schmökerten in den dort angebotenen Büchern, informierten sich vielleicht auch bei den Chabadniks, die dort einen Stand hatten und beim Abendessen sang der ganze Saal »Am Israel Chai«.

»Die Stimmung ist super, wie immer bei Limmud«, fand Irene Runge, eine Limmud-Veteranin, die sich wünscht, dass noch mehr Leute kommen. »Ich weiß auch nicht, was man da tun muss, aber man sollte versuchen, auch die Juden zu erreichen, die nicht in Gemeinden organisiert sind«, glaubt sie und hat auch gleich ein paar Leute mitgebracht. »Atemberaubend gut«, fand sie einen Vortrag »über Gott im Schlafzimmer«. »Nur ein bisschen mehr Kino hätte ich mir gewünscht«, dabei standen schon sechs Filme auf dem Programm.

Am letzten Abend trafen sich dann wieder alle in der Disko, zur gemeinsamen Hawdala, den Abschiedsworten des komplett ehrenamtlich arbeitenden Organisationsteams, vielleicht auch auf das ein oder andere Bier und vor allem das Konzert der angesagten israelischen Band »Coolooloosh«, die mit einem Funk-, Jazz- und Hip Hop-Mix dem Publikum einheizte, bis der Boden vibrierte. »Es war großartig hier«, resümieren die Musiker und auch das Publikum ist sich einig: »Nächstes Jahr wieder am Werbellinsee«.       

Veronique Brüggemann