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»Ich fühle mich nicht als Sühner…«
01.September 2007 | Beiträge – jüdisches berlin | Jugend, Menschen
Prokop Bowtromiuk hat nach dem Abitur ein soziales Jahr in Israel absolviert
Die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. (ASF) verfolgt ihre Ziele vor allem durch die praktische Arbeit ihrer Freiwilligen, die in sozialen und politischen Projekten in 13 Ländern aktiv sind. Seit fast einem Jahr lebt und arbeitet der Abiturient Prokop Bowtromiuk nun in Tel Aviv.
Du hast zusammen mit einigen anderen Abiturienten der Jüdischen Oberschule nicht den direkten Weg an eine Universität gewählt.
Noch vor einem Jahr war sich wahrscheinlich keiner von uns bewusst, was es bedeutet, alles hinter sich zu lassen, sich den sogenannten neuen Horizonten zuzuwenden und diese vielleicht auch durch die Arbeit für ASF zu finden. Hier in Israel habe ich endlich einmal die Möglichkeit den Balagan im Kopf zu ordnen und die Gedanken zu sortieren. Mittlerweile habe ich erfahren, was es heißt, sich selber zurückzunehmen und, nach fast 20 Jahren des Umsorgtwerdens, andere zu pflegen und ihr Seelenheil als wichtigstes Gut zu betrachten. Meine Eltern haben mir in Berlin eine wohl behütete Kindheit ermöglicht, meine Geschwister halten immer zu mir und mein Freundeskreis besitzt ein großes soziales Potential. Das ist nicht selbstverständlich und nun ist es an mir, einen Teil davon weiterzugeben und mich gleichzeitig weiterzuentwickeln. Dadurch, dass meine Mutter sich dafür entschied, mich die jüdischen Schulen, erst die Grundschule und später die Oberschule in Mitte besuchen zu lassen, hatte sie einen Grundstein für mein jetziges Dasein und Wohlbefinden gelegt. Die Schule war es auch, die in mir das Interesse und die Sympathie für das nie zuvor bereiste Land weckte. Vom ersten Schritt im schwülen Tel Aviv fühlte ich mich der Kultur und all den Leuten hier so nahe, als ob wir uns schon einmal begegnet wären und ja, es lag auch ein wenig an den vorhandenen Hebräischkenntnissen und dem Religionsunterricht.
Wusstest du, was dich als Friedensdienstler erwartet? Wo und wie du arbeiten würdest?
ASF hat uns eher mental auf die Abwesenheit von unserem Zuhause und die Rolle eines Freiwilligen vorbereitet. Sie hat uns unterstützt, den Weg frei zu haben, um möglichst schnell mit der sozialen Arbeit beginnen zu können, ohne sich um allzu viele nebensächliche Dinge, wie die Wohnungssuche, kümmern zu müssen. Ich identifiziere mich auf jeden Fall mit den sozialen Aspekten der Arbeit des ASF und weiß, dass ich hier gut aufgehoben bin, weil wir in meinen Augen durch das Fördererprinzip, die Länderbüros, die Zentrale und die Freundeskreise einen enormen Rückhalt für unsere Arbeit unter den doch sehr neuen Bedingungen haben.
Jetzt bin ich mir bewusst, wie weit die Arbeit mit geistig-körperlich behinderten Kindern und zerebral geschädigten, also fast ausschließlich körperlich behinderten und geistig teils zurückgebliebenen Kindern, auseinanderliegt. Mein Praktikum in einer Schule für geistig behinderte Kinder war eine gute Entscheidung, weil ich mit Kindern in Berührung kam, die nicht alltäglich sind und die es mir erleichterten, Berührungsängste zu verlieren, die ich mir hier in Israel erst hätte abgewöhnen müssen. So war ich gut vorbereitet, um die Arbeit in der Schule „On“ zu beginnen.
Kennzeichnend für das Israel-Programm des ASF sind Kombinationsprojekte. Es ermöglicht, dass die Freiwilligen einen Teil ihrer Arbeit der Betreuung von Schoa-Überlebenden widmen und zusätzlich in einem anderen gesellschaftspolitischen Zusammenhang engagiert sein können. Worin besteht deine Arbeit dort?
Ich arbeite vier Tage pro Woche mit zerebral geschädigten Kindern in der Beit Sefer „ON“ in Tel Aviv. Die Schule besitzt einen eigenen Garten, in dem die Kinder auch arbeiten, einen Computerraum, einen Spielplatz, einen wunderschönen Innenhof und irgendwann, natürlich wenn ich nach Hause fahre, wird die Schule auch ein eigenes Schwimmbad besitzen. Den Kindern fehlt also zumindest unter materiellen Gesichtspunkten an sehr wenig, denn auch Ergo- und Physiotherapie finden direkt vor Ort statt, genauso wie die Occupational Therapy. Da lernen die Kinder, die zum größten Teil Rollstuhlfahrer sind, den Umgang mit den alltäglichen Dingen. Das reicht vom Schuhe zubinden über das selbstständige Essen mit Gabel und Messer bis zum Umgang mit den eigenen Aggressionen. Ich durfte mich auch an dieser Therapie beteiligen und bin mit Elad einkaufen gegangen. Für uns klingt es alltäglich, aber Elad war als 12jähriger Junge das erste Mal allein einkaufen. Das war für mich ein einschneidendes Ereignis; einen eigentlich schon so alten Jungen zu erleben, wie aufgeregt er vor dem Einkaufen, beim Gemüseauswählen oder in der Süßigkeitenabteilung war. Dass manche Menschen die Welt so neu entdecken oder vollständig anders betrachten ist mir noch nie so klar geworden. Aber Elad war sichtlich erfreut über meine zurückhaltende Begleitung, denn ich war da, dass wusste er, aber er war auch auf sich allein gestellt. Der Tag mit Elad zeigt, wo ich meine Aufgabe sehe. Ich habe mitgeholfen ihm – ohne großen Aufwand – einen solch einprägsamen Moment zu bescheren.
Im Beit Schalom in Tel Aviv, einem Elternheim mit ausschließlich deutschen Bewohnern höheren Alters, absolviere ich den Teil meiner Arbeit, der sich offene Altenarbeit nennt. Dort besuche ich jeden Sonntag vier Senioren und erlebe regelmäßig, wie sich die Arbeit von ASF in den letzten Jahrzehnten verändert haben muss. Bevor ich nach Israel kam, dachte ich, offene Altenarbeit bestehe darin, ältere Menschen zu besuchen, mit ihnen zu reden und sie bei den Dingen des Alltags zu unterstützen. Ich war der festen Überzeugung, ich würde mich um Holocaustüberlebende kümmern und von ihnen einige wichtige Dinge über das Leben lernen können. All das ist natürlich ganz anders gekommen als erwartet. An dieser Stelle muss betont werden: andere Israelfreiwillige betreuen eben solche Senioren, ich nicht.
Ich habe anfangs viel wegen der Altenarbeit mit mir kämpfen müssen, habe nun alle meine Senioren sehr lieb gewonnen, aber es hat auch kraftraubende Stunden gebraucht, um meine Einstellung zu der Arbeit neu zu definieren. Ich musste lernen, mit Apathie und Demenz umgehen zu lernen. Bei den Besuchen beim 94jährigen Josef aus Wien entdeckte ich all die Hürden, auf die wir so ausführlich vorbereitet wurden. Josef ist sehr resigniert. Es gibt Tage, an denen er mich freudig begrüßt und fünf Minuten später aber wieder keinerlei Motivation besitzt, auch nur irgendetwas zu tun und sich weigert zu sprechen, weil es den Kraftaufwand nicht wert ist oder die Stimmbänder zu gereizt sind. Es ist nicht einfach, als 20jähriger mit solchen Situationen umzugehen, vor allem auch, weil man sehr schnell lernen muss, sich nicht demotivieren zu lassen und zu geben ohne zu verlangen, dass der Beschenkte sich dankbar zeigt. Aber wir haben natürlich auch schöne unbesorgte Stunden, in denen er mir seine Gedichte vorliest oder ich seinem immer noch kraftvollen Bariton lauschen darf. Das sind die faszinierenden Momente in meinem Leben hier, die sich mir einprägen, da dies alles Menschen sind, die schon fast 100 Jahre leben und Zeiten durchlebt haben, die sich mir nur als theoretischer Staub im Geschichtsbuch präsentieren. Es sind die Momente, in denen Josef plötzlich gesteht: „Doch, ich hab Sie schon ganz schön lieb!“
ASF ist seit 1961 in Israel tätig und sagt selbst, dass durch die NS-Verbrechen das deutsch-jüdische Verhältnis extrem belastet war. Die Sühnezeichen-Freiwilligen leisteten seitdem Pionierarbeit. Über 1500 junge Menschen haben mit ASF ihren Dienst in Israel geleistet. Trotzdem stellt sich die Frage ...
…wie ich mich als Deutscher in Israel fühle und wie die Leute mich akzeptieren? – Die Frage wird mir oft gestellt und ist mir trotzdem immer ein Dorn im Auge, und das aus mehreren Gründen. Zum einen kann ich mir selbst keine Nationalität zuordnen, weil meine Eltern Polen sind, ich auch den polnischen Pass besitze, aber in Deutschland groß geworden bin, weil ich Polnisch spreche, aber meine Freunde bisher alle ausschließlich in Deutschland leben. Darum habe ich beschlossen, ich habe keine Nationalität und identifiziere mich mit anderen Dingen: mit meiner Familie, meinem Freundeskreis und meiner Heimatstadt, also Berlin. So behalte ich mir vor, mich in zwei Ländern gleichzeitig heimisch zu fühlen und auf die ganzen Diskussionen zu verzichten.
Ich habe mich noch nie verantwortlich für die Gräueltaten der Nazis oder dem Begriff der Sühne verpflichtet gefühlt. Ich fühle mich einzig verpflichtet, als Individuum Verantwortung für Frieden und soziales Verhalten zu übernehmen und meinen kleinen Teil zu leisten. Ich fühle mich nicht als Sühner, sondern als Vermittler zwischen zwei Kulturkreisen und an erster Stelle als Friedensdienstleistender, klingt fast schon zu pathetisch, ist aber so! Meine Position, dass meine Nationalität doch eigentlich unwichtig ist, ist in einem stolzen Land wie Israel mit seinem besonderen Existenzrecht und den Konflikten eine eigenartige Einstellung, die aber wider Erwarten weniger auf Abneigung als auf Interesse stößt.
Wenn du am Ende des Sommers nach Deutschland zurückkehrst, was wirst du außer Biszli im Gepäck haben?
Es war ein traumhaft schönes Jahr, welches viel zu schnell vergangen ist. Ich habe einen Berg neuer Erfahrungen gesammelt, derer ich mir wahrscheinlich noch überhaupt nicht bewusst bin, habe viele liebenswerte Menschen, Israelis, Russen und Deutsche und viele mehr kennen gelernt, habe mir tausend und noch mehr Geschichten erzählen lassen: wahre, falsche und übertriebene, traurige, rührende und viele fröhliche. Ich bin gereist, habe gelernt, gelacht, mich geärgert und gewütet und die gesamte Palette der Empfindungen durchlebt. Ich habe mich in ein völlig neues Umfeld eingelebt und dessen Gewohnheiten angenommen, und bei all dem war ich glücklich und froh. Ich weiß, dass ich mich neuen Herausforderungen stellen kann und diese bewältige, ganz egal wie schwer sie zu Beginn scheinen mögen. Meine Arbeit hat mich immer froh gestimmt und ich habe den Umgang mit behinderten Kindern und Jugendlichen sowie älteren Menschen gelernt und sensibel geleistet, war ihr Freund für diese und hoffentlich längere Zeit.Ich habe gedacht, vielleicht „Occupational therapy“, also Beschäftigungstherapie, zu studieren, aber festgestellt, dass diese Arbeit als Freiwilliger mit Behinderten wunderschön ist, jedoch als Hauptberuf noch nicht existiert. Also werde ich Sozialwissenschaften studieren, Sommerlager für Behinderte in Deutschland betreuen und mich dann, wenn ich nicht zu den „Ich entscheid’ mich um“-Studenten gehöre, der Friedens- und Konfliktforschung zuwenden. Vielleicht ist mir damit ja auch noch einmal ein halbes Jährchen Israel an der Tel Aviver Universität gegönnt.
Das Gespräch führte Hauke Cornelius.
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