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»ICH bin ICH und wer bist DU?«
04.Oktober 2010 | Beiträge – jüdisches berlin | Jugend
Gelungenes Beispiel für den Dialog der Kulturen bei einem Workshop mit Schülern aus Mitte und Moabit
In Berlin leben fast eine halbe Million Ausländer aus 189 verschiedenen Ländern. Kinder der zweiten und dritten Generation von Einwanderern besuchen die Berliner Schulen und können die Frage nach ihrer Herkunft oft auch für sich selbst nicht befriedigend in einem Satz beantworten. Viele Schülerinnen und Schüler der Jüdischen Oberschule antworten auf diese Frage mit: »Ich bin hier geboren, aber meine Eltern…«.
Zum Selbstverständnis der JOS gehört es, dass mit Schülern unterschiedlicher kultureller, religiöser, sozialer und sprachlicher Herkunft ein Miteinander angestrebt wird, das von Toleranz und gegenseitigem Respekt geprägt ist. Um diese interkulturelle Kompetenz zu fördern, beschäftigen sich die Jugendlichen nicht nur im Unterricht mit anderen Religionen und Kulturen, sondern sie suchen immer wieder die Begegnung und das Gespräch mit Jugendlichen anderer Gemeinschaften.
So trafen sich am 15. September Neuntklässler der JOS und der Moses-Mendelssohn-Schule aus Moabit in der Friedrich-Ebert-Stiftung. Die FES hat es sich seit mehr als 80 Jahren zur Aufgabe gemacht, die politische und gesellschaftliche Bildung im Geiste von Demokratie und Pluralismus zu fördern, wobei interkulturelle Dialoge nur einen Aspekt der vielschichtigen Jugendarbeit darstellen.
Die dreißig Jungen und Mädchen aus Mitte und Moabit, die hier nun zum ersten Mal aufeinander trafen, erkannten bereits am Motto des Tages »ICH bin ICH und wer bist DU?«, dass es nicht darum geht, altbekannte Klischees aufzuwärmen. Vielmehr sollten die 15- und 16-Jährigen sich die eigenen Besonderheiten und Stärken bewusst machen und in den Dialog mit dem Gegenüber einbringen. Zwei Theaterpädagoginnen standen den Jugendlichen, die zum größten Teil aus jüdischen, muslimischen und einigen christlichen Familien stammen, zur Seite und konfrontierten sie mit zunächst ungewohnten theaterpädagogischen Spielen, die zunächst dazu dienen sollten, das sprichwörtliche Eis zu brechen. Und während beim Warm-up die Deutsch-Ägypterin Laura aus Moabit noch sagte: »Ich schaue keinem Fremden in die Augen, höchstens Mädchen!«, so agierte sie zwei Stunden später selbstbewusst und stellte knifflige Fragen in der Diskussionsrunde über fremde Religionen. Sehr erwachsen berichteten die Jugendlichen hier, was sie bereits über die Religion des anderen wissen und es entwickelten sich Diskussionen darüber, ob ein Halal-Zertifikat auf einem Lebensmittel mit einem Kaschrutstempel gleich gesetzt werden kann. Auch der gerade beendete Ramadan und der bevorstehende Jom Kippur sowie die Praxis des Fastens wurden von den Schülern lebensnah erläutert. Mahmud, der wie die meisten seiner Mitschüler aus einer palästinensischen Familie stammt, konnte zum Beispiel sichtlich stolz unter Angabe der exakten Uhrzeit erklären, wann im letzten Ramadan das tägliche Fasten begann und endete. Erstaunt nahmen die jüdischen Schüler zur Kenntnis, dass nahezu jeder der muslimischen Schüler während des Ramadan gefastet hat.
Von den Unterschieden kamen die Jugendlichen aber immer wieder zu den Gemeinsamkeiten und die beginnen nicht erst bei den aufgezählten Lieblingssportarten oder Computerspielen. Als einer der Jungen bekannte, dass er Angst habe, den Mittelschulabschluss nicht zu bestehen, nickten alle zustimmend. Und selbst wenn der eine fünfmal am Tag betet und der andere nur manchmal in die Synagoge geht, so waren sich doch alle Jugendlichen einig darin, dass die Religion und die Art der Ausübung zur Person dazugehört und man sein Gegenüber nicht danach be- oder verurteilen sollte.
Auch wenn die Theaterpädagoginnen in der Einführung davon sprachen, dass das Verhältnis zwischen Deutschen und Migranten bzw. Migrantengruppen untereinander ein konfliktreiches Thema und von zunehmender Polarisierung geprägt sei, so war das in diesem Workshop nicht zu spüren. Vielmehr zeigte sich hinter dem jugendtypischen Wortschatz große Rücksichtnahme und Toleranz dem Anderen gegenüber. Wichtig schien allen zu sein, dass sie hier aus erster Hand etwas über andere Religionen und Lebensweisen erfuhren. So berichtete ein 15-Jähriger ganz freimütig über seine pubertären Konflikte mit seinem Vater und war in all seiner Frustration doch sehr erstaunt, dass ein Moabiter Jugendlicher mitfühlend fragte, ob er es denn auch körperlich spüre, wenn er die väterlichen Regeln nicht befolge. Die Erkenntnis stand beiden jungen Gesprächspartnern ins Gesicht geschrieben: Ich bin nicht allein mit meinem Frust und es geht offenbar auch anders.
Der Erfahrungsaustausch der Workshop-Teilnehmer mündete schließlich in kleinen szenischen Darstellungen eines familiären Konfliktes zum Thema »Lebenspartner aus anderen Religions- bzw. Kulturkreisen«. Hier zeigten die Jugendlichen in gemeinsamen Arbeitsgruppen, welche Meinung sie dazu haben und dass die Generation ihrer Eltern und Großeltern dies zum Teil ganz anders sieht. Und auch hier wurde neben aller Spielfreude deutlich, dass die Jugendlichen um den Spagat zwischen traditionellen Werten und moderner Lebensweise wissen. Die meisten haben klare Vorstellungen vom zukünftigen Partner und die beziehen sich erstaunlicherweise nicht auf Aussehen, Beruf und Alter, sondern in erster Linie auf die Religionszugehörigkeit.
Wenn zu Beginn der Veranstaltung Urban Überschär von der FES als Ziel formulierte, dass Handlungsalternativen erarbeitet und ein respektvoller Umgang miteinander gefördert werden solle, so haben die Jungen und Mädchen der beiden Schulen ganz klar eine Eins verdient. Und während die Jugendlichen bereits Handynummern und Emailadressen austauschten, besprachen die Lehrer beider Klassen, wie der Kontakt weiter gehalten und intensiviert werden kann, denn die Schüler der Mendelssohn-Schule wollen im Sommer eine Studienreise nach Israel und Palästina unternehmen und die JOS-Schüler waren erst im Mai auf Ulpan in Israel, sodass es noch viele Erfahrungen zu berichten und Fragen zu beantworten gibt.
Hauke Cornelius
jüdisches berlin
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