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»Hine jom hadin«
01.September 2008 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage
Eine Predigt zum Neuen Jahr. Von Rabbiner Ernst M. Stein
Eine amtliche Aufforderung vor Gericht zu erscheinen, mag durch die Post eintreffen, von einem Beamten, einem Gerichtsdiener oder der Polizei übergeben werden; sie ist an eine einzelne Person gerichtet, kann aber letztlich viele betreffen. Selbst wenn der Angesprochene völlig unbeteiligt am Verfahren ist, ja sogar fälschlich gerufen wurde, muss er erscheinen. So will es die Autorität des Gesetzes, so will es die Würde des Gerichts.
In der Verhandlung selbst wird der Zeuge befragt und so lange er sich nicht selber inkriminiert, muss er wahrheitsgetreu antworten. Sein »Ja!«, muss bestätigen, was er weiß, sein »Nein, so war es nicht!« muss verlässlich und beständig sein.
Gott sei Dank werden die meisten Menschen nie vor ein Gericht gerufen, so bleibt ihnen nicht nur das ganze Procedere, sondern auch – und hier sage ich »leider« – die Aufgabe erspart, sich erinnern zu müssen, nachdenken zu müssen, sich mit der Wahrheit auseinandersetzen zu müssen, die Wahrheit sprechen zu müssen. Sie können unbeteiligt am Rechtsprozess – der aber auch sie betrifft, denn sie leben ja in der großen Gesellschaft, die durch Recht und Gesetz geregelt sein sollte – ihre vermeintliche Ruhe pflegen.
Ganz anders verhält es sich im Judentum. Hier werden wir alle, regelmäßig, jedes Jahr, vor die Schranken des Gerichts zitiert. Sagen wir doch laut und deutlich in unseren Gebeten: »Hine jom hadin« – »Siehe, hier ist der Gerichtstag.« Wenn wir uns diesen Satz selbst sagen, dann müssen wir auch erscheinen. Wir müssen kommen und an der Verhandlung teilnehmen, die, so wird es dargestellt, das Schicksal aller bestimmen wird.
Unsere Gebetstexte beschreiben in großartigen Wortbildern das stattfindende Gerichtsverfahren. Gott, so wird vorgetragen, lässt alle Menschen wie ein Hirte seine Herde unter seinem Stab vorüberziehen – »Maawir zone tachat schiwto«. Jeder Einzelne wird auf diese Weise für sich selbst betrachtet. Taten und Untaten, Wohltaten und Vergehen, alles wird beurteilt und verurteilt, wenn es angebracht ist.
Jedoch ist in dieses System auch die Möglichkeit des Bedenkens, der Reue, der Umkehr und der Läuterung eingebaut. Aber man soll es sich nicht zu einfach vorstellen, sich nicht in falscher Sicherheit wiegen, denn ein Gerichtstermin ist eine ernste Sache.
Wir wissen auch, dass die großen Fragen hier scheinbar unbeantwortet bleiben. Wir wissen, dass da Täter unsäglicher Verbrechen ihre Jahre in Ruhe und Wohlstand, unbehelligt, manchmal sogar geehrt, verleben. Sieht Gott das denn nicht? Auf der anderen Seite leiden Unschuldige, verhungern Kinder. Sind sie, waren sie so schlecht, dass ein solches Urteil gegen sie ausgesprochen wurde? Da muss doch, bei einiger Überlegung, ein Denkfehler in der Annahme eines solchen Rechtsprozesses sein.
Ja, man erscheint fast automatisch zu dieser Gerichtsverhandlung. Die Synagogen, sonst meist leer, sind heute gefüllt. Müssen wir uns da nicht fragen, was die Erwartungen sind, was hier vorgeht oder vorgehen sollte? Und ist dies nur eine Äußerlichkeit? Was soll wirklich geschehen? Bleiben wir doch bei dem Bild einer Gerichtsverhandlung, zu der wir als Zeugen geladen sind, Zeugen, die über sich selbst berichten und aussagen, die das sonst Unterdrückte laut bekennen, es beurteilen und verurteilen, wenn angebracht.
In der jüdischen Rechtsprechung sind es die Zeugen, die die wichtigste Stellung einnehmen; ein Richter kann immer nur nach ihren Aussagen richten.
So erfüllen wir doch unsere Pflicht – ganz wie es der durch unsere Traditionen auferlegten Selbstbetrachtung und dem Zwang zur Aussage entspricht. Diese Stunden in der Synagoge sollen mit Bedacht und wirksam verbracht und nicht durch oberflächlich dahingesagte Worte entwertet werden. Sagen wir vielmehr als Zeugen wahrheitsgemäß aus! Vielleicht gehört Mut dazu, denn die Wahrheit wird oft nicht gerne gehört.
Das Persönliche, das wir betrachten sollen, mag dabei noch das Einfachste sein, doch wir leben ja nicht in einem Vakuum. Da sind der Freundeskreis und die Familie, die uns umgebende große Gesellschaft und die Anliegen der Welt und für uns auch die der Gemeinden. Mit allen und allem ist man verbunden und für alles ist man mitverantwortlich. Das Leben ist kompliziert und über alles wird Rechenschaft verlangt. Es sind nicht allein Schuldgefühle, die geweckt werden sollen, sondern eine verständige Verantwortung.
Das Judentum in seiner durch Erfahrungen angesammelten Weisheit verlangt nur das Machbare. Daher soll nur das uns direkt Betreffende, Gemeinschaftliche angesprochen werden, auf das wir Einfluss nehmen sollen und können. Wir sollen uns dabei ernst nehmen und uns selbst zuhören.
Wenn wir vor den Gerichtshof der Feiertage treten, stehen wir auch vor uns selbst. Es ist unser Auftrag – stellvertretend für Gott, in dieser Welt –, Verantwortung für all das, was unser ist, zu tragen. Nicht umsonst sprechen die alten Texte der Bibel davon, dass der Mensch »Bezelem Elohim«, also »gottähnlich« geschaffen wurde; und der Psalmist singt: »Und lässt ihn um ein Geringes Gott nachstehen, und mit Ehre und Glanz krönst du ihn.« (Ps. 8:6) Alles, auch die Sorge um das Wohlergehen von allen und allem, ist dem Menschen in seine Obhut übertragen. Es gibt kein Verstecken hinter Gott. »Wo bist du, Mensch?« war der Ruf bei der ersten großen Untat.
Doch zurück zu uns, zu unserer Gemeinschaft, unseren Gemeinden. Wie war das vergangene Jahr? Da gab es ohne Zweifel sichtbare Erfolge. Institutionen wurden ausgebaut und eröffnet, Grundsteine für weitere gelegt. Die Gemeinden in diesem Land wuchsen, Hochzeiten wurden gefeiert, Kinder geboren, Jubiläen erreicht. Viele Todesfälle waren zu beklagen. Alles scheint normal, alles bedient worden zu sein. Doch obwohl unsere Aussagen die Vergangenheit betreffen, ist es die Zukunft, die im Mittelpunkt stehen soll.
Leider wird aber das Wissen über das Wesen des Judentums, über das, was wirklich verlangt wird, immer weniger bedacht. Stattdessen werden persönliche Ambitionen und folkloristische Nebensächlichkeiten in den Mittelpunkt gerückt. Das Judentum ist eine Religion der Vernunft. Fundamentalismus, der sich an Buchstaben alter Vorstellungen klammert, wie auch charismatische Tendenzen, die auf die vermeintliche Unfehlbarkeit einzelner Personen zielen, sind abzulehnen. Eigenes Denken und Forschen ist gefordert. »Hine jom hadin« – auch in unserem Zugang zu diesen Problemen werden wir uns einschätzen müssen.
Im großen Sündenbekenntnis dieser Feiertage, in dem man sich selber alle nur erdenklichen Vergehen anlastet, ist auch das Vergehen des »Falschen Rates« angeführt. Man singt und wiederholt es, schlägt sich dabei an die Brust »Jaatzti ra« – »Ich habe schlechten Rat gegeben«. Solch falscher Rat verschlimmert vieles von dem, das aus welchen Gründen auch immer, fehlgelaufen ist. Daher ist es wichtig, alles, was wir tun, überlegt zu tun, mit Wissen der Materie, uneigennützig und nur zum Wohle der Sache zu beraten und dann Entscheidungen zu treffen.
»Hine jom hadin«, am Gerichtstag legen wir unser Zeugnis ab, dass wir verstanden haben – durch überlegtes Gebet, das uns leiten soll, in angemessenen, nicht übertriebenen, aber unmissverständlichen Worten, die unser Interesse und unsere Besorgnis ausdrücken – alles um eine Zukunft in Eintracht, Selbstachtung und Fortschritt zu sichern.
Ja, wir stehen Gott um ein Geringes nach, das entlässt uns aber nicht, stellvertretend für IHN, unsere Pflichten als Menschen menschlich zu erfüllen.
Amen.
jüdisches berlin
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