Beitragssuche
Helfer, Täter, Opfer?
01.September 2012 | Beiträge – jüdisches berlin | Gedenken
Eine Biografie über die facettenreiche Persönlicheit Berthold Storfers (1880 – 1944), der durch illegale Schiffstransporte nach Palästina mehr Juden als Oskar Schindler rettete, aber fast unbekannt geblieben ist
Arno Lustiger verstarb wenige Tage vor dem Erscheinen von Gabriele Anderls akribisch recherchierter Biographie »9096 Leben« über den »unbekannten Judenretter« Berthold Storfer, dem »die größte maritime Rettungsaktion während des Krieges« zu verdanken war, wie Lustiger noch in seinem Vorwort zu dem Buch schrieb. Für ihn war Storfer, der direkt oder indirekt fast zehntausend Menschen zur Flucht verhalf, »ein Held der Rettung«, dem die Aufnahme als Gerechter unter den Völkern in Yad Vashem jedoch versagt blieb, weil er sich hatte taufen lassen.
Der Wiener Kommerzialrat Berthold Storfer, 1880 in einer jüdischen Familie in Czernowitz geboren, Weltkriegsteilnehmer und erfolgreicher Bankier, kam bereits unmittelbar nach dem »Anschluss« an das Deutsche Reich im März 1938, als er angesichts der neuen Realitäten schon im April eine Hilfsorganisation für die jüdische Auswanderung gründen wollte, in Kontakt mit Adolf Eichmann, damals Leiter der »Zentralstelle für jüdische Auswanderung« in Wien. Der SS-Obersturmbannführer beauftragte Storfer auf Empfehlung der Jüdischen Gemeinde mit der Einrichtung des »Ausschusses für jüdische Überseetransporte«, der praktisch ausschließlich illegale Transporte in das britische Mandatsgebiet Palästina zu organisieren hatte. Denn zu dieser Zeit forcierte die NS-Führung noch die Auswanderung, besser gesagt: Vertreibung der Juden (bei gleichzeitigem Einbehalt ihres gesamten Vermögens); andererseits war die Einwanderungspolitik der Briten restriktiv. Und nicht nur der Briten. Ein Kapitel im Buch befasst sich mit der beschämenden Abwehrpolitik der meisten »freien« Länder gegenüber Flüchtlingen und der ergebnislos verlaufenden Flüchtlingskonferenz von Evian 1938, an der auch Storfer für die Wiener Gemeinde teilgenommen und in deren Nachgang der Völkische Beobachter gehöhnt hatte, dass Deutschland der Welt seine Juden anbiete, aber niemand sie haben wolle.
Die ebenfalls bei der Organisation der Auswanderung tätigen zionistischen Organisationen Hechaluz, Betar und Mossad beschuldigten Storfer, der mit dem Palästina-Amt, aber auch mit der »Reichsstelle für das Auswanderungswesen« in Berlin in Kontakt stand, mit der SS zu kollaborieren. Der wiederum sorgte – anders als diese – auch für die Flucht älterer und kranker Menschen aus Danzig, Wien und Bratislava, freigekaufter KZ-Häftlinge aus Buchenwald und Dachau und dafür, dass Begüterte die Fahrt für Mittellose mitbezahlten. Viele Bewerber musste er aber auch abweisen.
Berthold Storfer war wie die Offiziellen der Jüdischen Gemeinde gezwungen, zu kooperieren. Anderl meint, Storfer habe sich »in ein gefährliches Nahverhältnis zum NS-Regime« begeben – so, als er im Oktober 1939 bei den ersten Deportationen von Wien ins »Generalgouvernement« gemeinsam mit anderen jüdischen Funktionären in Südostpolen eine Selbstverwaltung aufbauen sollte und wollte. Doron Rabinovici schreibt, Storfer habe sich »auf seine Art dagegen gewehrt, zum ›Untermenschen‹ degradiert zu werden« und auch Hannah Arendt würdigte Storfers Rolle als Retter. Aus der Ferne ist leicht urteilen über einen Mann, der mit immer neuen, kaum überwindbaren Problemen zu kämpfen hatte und sich auf einer ständigen Gratwanderung befand – die NS-Behörden im Nacken, die zionistischen Aktivisten als Konkurrenten, raffgierige Reedereibesitzer, erpresserische Reisebüros und korrupte Mittelsmänner als Partner, irrwitzige Devisenbestimmungen, schrottreife Schiffe, kriminelle Besatzungen und meuternde Flüchtlinge, die schon monatelang in Notunterkünften hatten ausharren müssen und von Rückschiebung bedroht waren.
Die Autorin beleuchtet all diese Widrigkeiten und zeichnet ein detailliertes Bild von Storfers Aktivitäten, seinem Umfeld und dem Zeitgeschehen. Klar wird: Es war eine organisatorische Großleistung und grenzt an ein Wunder, dass es ihm am Ende gelang, trotz aller Widrigkeiten im September 1940 vier Transporte loszuschicken, erst mit Flussschiffen über die Donau, anschließend auf umgerüsteten Seefrachtern weiter Richtung Haifa. Auf den überladenen Schiffen fehlte es an allem: an Kohle, Platz, Trinkwasser und Lebensmitteln, auf einem der Schiffe mussten sogar Kabinenwände, Masten und Pritschen verfeuert werden und es brach Typhus aus. Nach sechs Wochen Fahrt erreichten die Schiffe nacheinander schließlich Haifa. Doch durften die Passagiere nicht an Land, sondern mussten auf ein anderes Schiff, die »Patria« umsteigen, das sie in eine britische Kolonie abschieben sollte. Daraufhin verübte die Hagana einen Bombenanschlag auf die »Patria«, um sie unbrauchbar zu machen. Unglücklicherweise sank das Schiff. 267 Menschen starben. Ein Teil der Überlebenden wurden in das Internierungslager Atlith bei Haifa gebracht, der andere auf die Pazifikinsel Mauritius...
Berthold Storfer jedenfalls hatte insgesamt 9096 Juden zur Flucht verholfen. Er selbst hatte bei seinen Auslandsreisen mehrfach die Gelegenheit, nutzte sie jedoch nicht, so wie er auch – trotz Taufe – seine Konfession in der NS-Zeit immer wieder als »mosaisch« angab.
Im Oktober 1941 verbot Heinrich Himmler die Ausreise von Juden, bald folgte die beabsichtigte »Endlösung«. Die »Zentralstelle für jüdische Auswanderung« wurde aufgelöst. Als Storfer erfuhr, dass auch seine Deportation bevorsteht, tauchte er Anfang September 1943 unter, wurde jedoch erwischt und nach Auschwitz deportiert. Adolf Eichmann sagte bei einer Vernehmung in Jerusalem 1961 über seine letzte Begegnung mit Berthold Storfer in Auschwitz: »Storfer ... hat mir sein Leid geklagt. Ich habe gesagt: Ja, mein lieber guter Storfer, was haben wir denn da für ein Pech gehabt? Und ich habe ihm auch gesagt, schauen Sie, ich kann Ihnen wirklich gar nicht helfen, denn auf Befehl des Reichsführers kann keiner Sie herausnehmen (…) Und dann hab ich Höß gesagt: Arbeiten braucht Storfer nicht.«.
Berthold Storfer wurde im November 1944 ermordet.
Judith Kessler
jüdisches berlin
2012_24 Alle Ausgaben
- Dezember 2024
- November 2024
- Oktober 2024
- September 2024
- Juni 2024
- Mai 2024
- April 2024
- März 2024
- Februar 2024
- Januar 2024
- Dezember 2023
- November 2023
- Oktober 2023
- September 2023
- Juni 2023
- Mai 2023
- April 2023
- März 2023
- Februar 2023
- Januar 2023
- Dezember 2022
- November 2022
- Oktober 2022
- September 2022
- Juni 2022
- Mai 2022
- April 2022
- März 2022
- Februar 2022
- Dezember 2021
- November 2021
- Oktober 2021
- September 2021
- Juni 2021
- Mai 2021
- April 2021
- Januar 2018
- März 2021
- Februar 2021
- Mai 2020
- Januar 2021
- Dezember 2020
- November 2020
- September 2020
- Oktober 2020
- Juni 2020
- April 2020
- März 2020
- Februar 2020
- Januar 2020
- September 2019
- November 2019
- Juni 2019
- Mai 2019
- April 2019
- März 2019
- Februar 2019
- Dezember 2018
- Januar 2019
- Mai 2015
- November 2018
- Oktober 2018
- September 2018
- Juni 2018
- Mai 2018
- April 2015
- März 2015
- März 2018
- Februar 2017
- Februar 2018
- fileadmin/redaktion/jb197_okt2017.pdf
- September 2017
- Juni 2017
- April 2017
- November 2017
- Januar 2017
- Dezember 2016
- November 2016
- Oktober 2016
- September 2016
- Juni 2016
- Mai 2016
- April 2016
- März 2016
- Februar 2016
- Januar 2016
- Dezember 2017
- Dezember 2015
- November 2015
- September 2015
- Juni 2015
- Oktober 2015
- Februar 2015
- Januar 2015
- Dezember 2014
- November 2014
- Januar 2022
- Oktober 2014
- September 2014
- Juni 2014
- Mai 2014
- März 2014
- Februar 2014
- Januar 2014
- Dezember 2013
- November 2013
- Oktober 2013
- Juni 2013
- Mai 2013
- April 2013
- März 2013
- Februar 2013
- Januar 2013
- Dezember 2012
- November 2012
- Oktober 2012
- September 2012
- Juni 2012
- Mai 2012
- April 2012
- März 2012
- Februar 2012
- Januar 2012