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Haben Juden Hörner?
01.Mai 2013 | Beiträge – jüdisches berlin | Kultur
Den vielen Fragen, die »die Leute« über das Judentum haben, begegnet eine Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin mit »der ganzen Wahrheit über die Juden« – indem sie noch mehr Fragen hinzufügt. Sicher ist im Judentum nur der Zweifel. Möglicherweise.
Juden sind nicht sehr attraktiv. Ihr Mangel an Schönheit ist allerdings nicht ganz so groß wie ihr Mangel an Tierliebe. Dafür sind sie geschäftstüchtig, einflussreich und vor allem intelligent. So zumindest haben es die Besucher der Ausstellung »Die ganze Wahrheit… Was Sie schon immer über Juden wissen wollten« gesehen, die die Schau in den ersten Wochen nach ihrer Eröffnung bereits besucht haben. Kurz vor Ende des Rundgangs durch die Räume im ersten Obergeschoss des Jüdischen Museums konnten sie nämlich durch Einwurf kleiner Plastikchips in verschiedene Kästen darüber abstimmen, wie »die Juden« denn »so sind«. Bis jetzt ist der »Tierlieb«-Kasten noch kaum gefüllt, und um die mit »Schön« betitelte Box steht es auch nicht viel besser. Hundertfach wurde dagegen für die anderen drei Kategorien abgestimmt. Also alles beim Alten? Ja und nein.
Sicher ist im Judentum eh nicht allzu viel, wenn man der Botschaft der Kuratorinnen folgt. Diese These belegen sie eindrücklich mit einer gelungenen Videoinstallation: Sechs Rabbiner und eine Rabbinerin, orthodoxe, liberale und konservative, beziehen Stellung zu zentralen Fragen des Judentums. Sieben verschiedene Stellungen, wohlgemerkt. Darf ich am Schabbat Autofahren? – Ja, wenn ich sonst nicht in die Synagoge komme, sagt der eine. Niemals, sagt der andere. Wer ist überhaupt Jude? – Wer sich als ein solcher betrachtet und verhält, sagt der eine. Wer eine jüdische Mutter hat oder übertritt, sagen die anderen. Und die Vaterjuden? Und die Getauften? Und, und, und…? Nur bei einem Thema herrscht Konsens: Im Judentum geht es ums Zweifeln, ums Fragen selbst. Jüdisch sein heißt, nicht fertig zu sein, sondern lebenslang eher an neuen Fragen als an Antworten zu wachsen. Wenigstens das ist – einigermaßen – sicher. – Die Zuschauer dieses Schlagabtauschs müssen die Köpfe wenden, um den jeweiligen Sprecher auf der Leinwand ansehen zu können. Wie beim Tennis. Oder eben: Wie bei einer Diskussion, an dem man teilnimmt. Unmerklich werden Besucher so zum Teil des großen Gesprächs, nehmen innerlich Stellung, lachen manchmal leise oder murmeln abfällig vor sich hin. Schließlich geht es hier eigentlich um sie. Es sind ihre Fragen, die die Ausstellung thematisiert.
Einige von ihnen haben auf der als Gästebuch fungierenden Wand am Ausgang, die mit eigenen Fragen beklebt werden kann, ihre Bedenken über die Idee mit den Plastikchips zum Ausdruck gebracht. Damit würden doch eh nur Klischees reproduziert. Andere finden die Abstimmung lustig, wieder andere geschmacklos. Die Zettelwand füllt sich ebenso stetig wie die »Juden sind«-Kästen, Fragen werden von anderen Besuchern beantwortet, kritisiert, gelobt und lächerlich gemacht (»Geh mal studieren! Lies mal ein Buch!«).
Unter die Fragen mischen sich Kommentare, Zustimmung und Kritik, die wiederum kritisiert werden. So entsteht ein Raum des Dialogs aller mit allen; wer vorhin noch Zuschauer war, darf und soll hier selbst zum Sprecher, Frager, Zweifler werden.
Die überall großflächig plakatierte Rede von »der ganzen Wahrheit« ist, natürlich, eine feixende Antwort – die einzige in der gesamten Ausstellung –, und zwar auf diejenigen, die an »die ganze Wahrheit« glauben, sprich: Auf all jene, die »die jüdische Identität« gern fein säuberlich als Katalog von bestimmten Eigenschaften und Verhaltensweisen aufgelistet hätten. Glücklicherweise haben die Ausstellungsmacherinnen weder diesem verbreiteten Bedürfnis nach Sicherheit durch Verdinglichung nachgegeben noch eine wohlmeinend-belehrende Völkerschau inszeniert. Vielmehr gelingt es ihnen auf wunderbar leichtfüßige Weise, dem Punkt oder gar Ausrufezeichen der eindeutig bestimmbaren Identität das Fragezeichen entgegenzusetzen – und dabei die Bürde in Kauf zu nehmen, keine einzige definitive Antwort zu geben. Es sind daher auch Fragen, die den Besucher von Anfang bis Ende durch die Schau geleiten. Warum gibt es Beschneidungen? Warum mag keiner die Juden? Sind alle Juden religiös? Wer ist überhaupt Jude? Teeniestar Justin Bieber vielleicht? Immerhin hat der ein hebräisches Tattoo. Oder Whoopie Goldberg (bei dem Nachnamen)? Oder doch Elvis oder (der von Rabbi Jacob Snowman beschnittene) Prince Charles? Was ist mit Harald Martenstein? Und warum will man das eigentlich so genau wissen? Übrigens: Der Satan, der ist eindeutig echad mischelanu. Er hört auf den Namen Bernie Madoff, war mal, tja, »Finanzoptimierer« in Manhattan und kann in der Ausstellung als Actionfigur mit Pferdefuß und Dreizack (plus Hörnern!) bewundert werden. Dazu gibt es übrigens einen Hammer, denn der Bernie-Satan aus Plastik ist vollständig »destructible«. Ein kleiner Trost für die Opfer seiner finanziellen Teufeleien.
»Die ganze Wahrheit über die Juden« lautet also: Es gibt keine. Was es gibt, sind vielfältige Perspektiven, Lebensformen, Denkweisen, Klischees – und Weisen der Erinnerung. Darf man über den Holocaust lachen? In Deutschland scheinbar nur dann, wenn Oliver Polak auftritt. Zumindest ist seine Comedy-Produktion die einzige deutsche, die hier präsentiert wird. Den größeren (und weitaus lustigeren) Teil übernehmen Amerikaner, genauer: amerikanische Juden, wie etwa der geniale »Seinfeld«-Erfinder Larry David, der in einer Episode seiner TV-Serie »Curb Your Enthusiasm« zwei Überlebende zusammenbringt – von denen allerdings nur einer das KZ, der andere dagegen eine Art TV-Dschungelcamp im australischen Busch »überlebt« hat. Die entstehende »Opferkonkurrenz« zwischen den beiden (»Haben Sie die Show überhaupt mal gesehen?« – »Haben Sie unsere mal gesehen? Sie hieß Holocaust!«) wird von David auf so derart komische Weise ausgeschlachtet, dass Lachen unvermeidlich ist. Denn was hier den jüdischen Witz vom Judenwitz unterscheidet, ist natürlich die offenkundige Absurdität des Vergleichs. So bleibt die Würde des »echten« Überlebenden in jedem Moment gewahrt – eine Voraussetzung für jede humoristische Auseinandersetzung mit der Schoa. Wer etwas ganz genau wissen will, kann übrigens auch Juden live befragen. Die sitzen nämlich zu der Frage »Gibt es noch Juden in Deutschland?« in einem Glaskasten und stehen für Auskünfte aller Art zur Verfügung. Hingehen!
Frank Lachmann
_ bis 1. 9. 2013, Jüdisches Museum Berlin, Lindenstraße 14, Berlin-Kreuzberg, Montag 10-22 Uhr, Dienstag-Sonntag 10-20 Uhr
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