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Grußwort des Vorsitzenden

01.April 2015 | Beiträge – jüdisches berlin | Gemeinde

Liebe Gemeindemitglieder,


das Streben nach Freiheit spielt eine zentrale Rolle im Judentum. Bereits vor 3500 Jahren gelang unseren Vorfahren der Auszug aus Ägypten. Das jüdische Volk befreite sich vom Joch der Sklaverei. Nicht umsonst heißt deshalb das älteste und höchste familiäre jüdische Fest »Pessach« auch »Chag haCherut« – Fest der Freiheit.

Den Freiheitsgedanken trugen die Juden in die ganze Welt. Sei es als individuelle Freiheit des Einzelnen oder die kollektive Freiheit einer Bevölkerungsgruppe. Allen Unwägbarkeiten zum Trotz hat sich das jüdische Volk den Freiheitsgedanken beständig bewahrt. In Zeiten höchster Not hat sich stets gezeigt, dass das Streben nach Freiheit stärker ist als alle Ressentiments. Immer wieder gab es den Versuch, uns Juden in unserer Freiheit zu beschneiden. Seine schrecklichste Zuspitzung fand dieser Versuch im Genozid des 2. Weltkriegs. Aber auch in Momenten größter Bedrängnis haben die Juden immer wieder für ihre Freiheit gekämpft. Am 16. April, dem Yom Ha Shoa we Ha G’wura, werden wir den Heldinnen und Helden des Aufstandes im Warschauer Ghetto ebenso gedenken wie den 6 Millionen Juden, die Al Kiddusch Ha Schem gegangen sind.

Der Staat Israel ist ein Produkt dieses jahrtausendealten Strebens nach Freiheit und leuchtendes Beispiel für eine freiheitliche Demokratie im Nahen Osten. Auch deswegen wird es von den meisten seiner arabischen Nachbarn so gehasst. Israel wird dagegen nie Gefahr laufen, zu einer Diktatur zu werden, weil eben dieses Streben nach Freiheit seit tausenden von Jahren so tief verwurzelt ist im Bewusstsein des jüdischen Volkes.

Freiheit ist immer auch mit Gerechtigkeit verbunden. Das Bekenntnis zur Gerechtigkeit spielt im Judentum eine ebenso große Rolle wie der Freiheitsgedanke. Nicht umsonst ist die Bezeichnung »Zaddik« –Gerechter – eine der höchsten Ehrbezeugungen unserer Religion. So sehr wir aber nach Gerechtigkeit streben, vollkommene Gerechtigkeit wird niemals zu erreichen sein. Denn Gerechtigkeit bleibt letztlich immer eine individuelle Empfindung, welche von eigenen Interessen jedes Einzelnen von uns geprägt wird. Kurz gesagt: Jeder hat seine eigene Vorstellung von Gerechtigkeit. Wer also glaubt, auf Anhieb vollkommene Gerechtigkeit herstellen zu können, schafft meistens mehr Unrecht als Recht. Wir können immer nur versuchen, uns in kleinen Schritten einem ausgewogenen, gerechten Zustand zu nähern.

Gerechtigkeit streben wir zum Beispiel in unserem Bildungssystem an. Jedoch hängt Bildungserfolg nirgendwo sonst so stark vom sozialen Status der Eltern ab wie in Deutschland. Das belegen zahlreiche Studien und Statistiken zur Chancengleichheit im Bildungssystem.

Auch am Beispiel des Mikrokosmos unserer Gemeinde können wir sehen, dass die Schaffung gerechter Verhältnisse für alle immer nur in kleinen Einzelschritten möglich ist. Einige von Ihnen haben sicher die Diskussion der letzten Monate zum Thema Lehrergehälter an den jüdischen Schulen mitverfolgt. Ein gerechtes Schulsystem erfordert die gerechte Entlohnung seiner Lehrer. Ungerecht ist, dass die Gehälter unserer Lehrer seit 2002 nicht erhöht worden sind. Um hier Gerechtigkeit zu schaffen, hatte der amtierende Vorstand seit 2014 die Gehälter der in Deutschland ausgebildeten Lehrer an unseren Schulen denen ihrer Kollegen im öffentlichen Dienst angeglichen. Dabei handelte es sich um eine Gehaltssteigerung von durchschnittlich 16 %. Gleichzeitig wurden die Gehälter aller anderen Gemeindemitarbeiter lediglich um 6 % erhöht.

Keiner unserer Lehrer sollte sich gezwungen sehen, an andere, öffentliche Schulen wechseln zu müssen. Es lag uns viel daran, dass der Schulunterricht ohne Einschränkungen weitergeht. Dabei konnte sich der Vorstand bisher auf die Solidarität der anderen Gemeindemitarbeiter verlassen, die trotz einer im Vergleich viel kleineren Gehaltsangleichung stets hinter der Gemeinde standen und auch weiterhin stehen.

Unser Ziel bleibt es aber nach wie vor, nach Möglichkeit die Gehälter aller Mitarbeiter anzuheben und auch den Lehrern weiterhin die ihnen gebührende Sicherheit bei der Gehaltsentwicklung zu bieten.

Um diese Ziele zu verwirklichen, kämpft der Vorstand schon seit Jahren dafür, dass die Gemeinde die ihr aus dem Staatsvertrag mit dem Land Berlin zu zahlenden Gelder in voller Höhe erhält. Einen ersten Erfolg erzielten wir letztes Jahr vor dem Berliner Verwaltungsgericht. Dadurch war es uns überhaupt erst möglich, die erwähnten Gehaltsangleichungen vorzunehmen.

Das Verwaltungsgericht hatte 2014 geurteilt, dass der Gemeinde ein wesentlich höherer Zuschuss, als bisher vom Land Berlin gezahlt, »ohne Wenn und Aber«, also bedingungslos zusteht. Das Gericht hat damit – ganz im Sinne des Freiheitsgedankens – unsere Unabhängigkeit von jeglicher staatlicher Einflussnahme oder Mitbestimmung hervorgehoben. Um in Zukunft immer gerechtere Gehaltsverhältnisse in der Gemeinde schaffen zu können, aber auch um den Fortbestand und die Entwicklung der Gemeindeinstitutionen zu sichern, werden wir weiter für unsere Rechte aus dem Staatsvertrag mit dem Land Berlin eintreten. Für den Vorstand und die Koach-Fraktion steht außer Frage: Das jüdische Leben in Berlin muss sich weiter in Freiheit entfalten. Unsere Gemeinde soll wachsen. Es soll eine jüdische Realschule gegründet und unsere Kindergärten erweitert werden.

Zugleich wollen wir das Gemeindehaus in der Fasanenstaße mit Leben füllen. Wir sind sehr glücklich über das große Interesse unserer Gemeindemitglieder und Freunde der Gemeinde, zusammen jüdische Feste zu feiern. Unsere Purimfeier am 8. März war für die ganze Familie angekündigt – und die ganze Jüdische Gemeinde war eine Familie! Von der Bobbe bis zum Baby, vom Unternehmer bis zum Studenten … mehr als 600 Gäste kamen, um den Triumpf der Freiheit über das Böse, den Sieg Esthers und Mordechais über Haman zu feiern.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen, auch im Namen des gesamten Vorstands und der Koach-Fraktion, vom Herzen Chag Pessach kasher ve sameach.

Ihr Dr. Gideon Joffe

Grußwort des Vorsitzenden