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»Gewidmet den jüdischen Kämpfern in der Roten Armee«
01.Mai 2010 | Beiträge – jüdisches berlin | Kultur, Menschen
Das Jewish Film Festival zeigt zum 9. Mai einen liebevollen Dokumentarfilm über (vor allem ältere) Zuwanderer aus der Ex-Sowjetunion
Russisches Stimmengewirr, ordengeschmückte Uniformjacken – ein Fest jüdischer Kriegsveteranen in Frankfurt am Main (es könnte aber auch Hamm oder Berlin sein). So beginnt der Film von Mischka Popp und Thomas Bergmann: Mit dem 9. Mai, für viele Zuwanderer der höchste Feiertag, der Tag des Sieges, der Tag der Befreiung. Jedem der einzeln aufgerufenen Frontkämpfer wird eine rote Rose überreicht. Im Hintergrund spielt ein Duo mit Synthesizer »Mazel tov« (so heißt auch der Film und das Duo). Es wird geklatscht, getanzt und ein bißchen geweint.
Die Art des Umgangs mit der Erinnerung an den »Großen Vaterländischen Krieg«, wie sie bis heute in der Ex-Sowjetunion und seit der großen Einwanderung nach Israel auch dort gepflegt wird, findet hier in Deutschland nur ansatzweise und nur selten statt, dort, wo »russische« Juden sich selbst feiern, in Jüdischen Gemeindezentren und ungesehen von der Öffentlichkeit.
Ein deutscher Film gibt nun einigen dieser inzwischen betagten Rotarmisten und ihren Kindern eine Stimme und macht verstehen, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt als eine einfache Antwort auf die Frage »Warum ausgerechnet Deutschland?« oder auf die Frage, wie man wird, wenn 70 Jahre die eigene Religion, Kultur, Sprache verboten waren oder wie es ist, in Deutschland anzukommen mit wenig realem und viel unsichtbarem Gepäck…
Die Filmemacher gehen zuneigungsvoll mit den Alten um, und die danken es ihnen mit Offenheit. Sie sitzen in ihren Neubauwohnungen vor schweren Vorhängen und Gardinen, auf geblümten Plüschsofas, zeigen Fotos und erzählen… über verordneten Atheismus und über »Gott« Stalin, der es nicht gern sah, wenn Juden Orden bekamen und am liebsten unter den Tisch gekehrt hätte, dass eine halbe Million von ihnen in seiner Armee gedient haben und 200 000 starben. Die Veteranen erzählen, über die Blockade von Leningrad, als 900 000 Menschen verhungerten, über die Toten auf der Straße, die Kälte, über herausquellende Därme... und dass man die verwundeten Kameraden liegen lassen und immer »nur vorwärts, vorwärts...« musste. Einer war Scharfschütze: »Auf mein Konto gingen elf eliminierte Faschisten«, sagt er ohne Stolz. Eine Frau erzählt, wie man sie als Kind evakuierte, im letzten Moment, während alle in der Stadt verbliebenen Juden in Babi Jar umgebracht wurden. Erlebnisse, die nicht weniger schmerzhaft und traumatisch sind, weil sie 65 oder 70 Jahre her sind. Einer sagt: »Das Unglück des Krieges ist bei allen im Gedächtnis geblieben, für das ganze Leben… Da gibt es nichts Sanftes. Es ist alles grausam. Und wenn sich Leute heute darum reißen, in den Krieg zu ziehen, dann wissen sie nicht, wovon sie reden. Diese Dummköpfe.« So einfach, so wahr.
Dalia Moneta, die im Film das Geschehen sehr plastisch und lebendig einordnet und reflektiert, ist in der Frankfurter Gemeinde zuständig für die Integration der Zuwanderer und erzählt, wie überfordert alle in der ersten Zeit mit dem plötzlichen Ansturm waren (»Die sind mir bis auf’s Klo gefolgt: Frjau Manjeta, eine Fragäh!«) und wie es »damals ziemlich schnell knallte«, weil die eine Seite »Boh, sind die alle reich hier!« schrie und die andere »Das sind keine Juden!«. Denn die Zuwanderer »hatten ihre gute atheistische Erziehung und wussten ein bisschen von der Oma« – das wär’s gewesen und auch ihre Vorstellung von deutschen Juden als »den Kindern von Heine« hätte noch aus Vorkriegszeiten gestammt.
Das ist 15, 20 Jahre her. Dennoch verlaufe »in der Welt der Emigranten auch nach Jahren noch alles auf Russisch«, sagt wer. Auch die im Film zu sehenden stämmigen Damen sind unverkennbar in ihrem Kleidungs- und Frisurenstil wie in ihrer Lebensfreude, genau wie der russische Delikatessenladen: Birkenwäldchen und Jungfrau Maria mit blut-strahlendem Herz an der Wand, Räucherfisch und Sonnenblumenkerne im Regal. Eine junge Künstlerin, die »Migrationscollagen« baut, meint allerdings, Zuwanderer kauften russische Produkte nicht wegen des Geschmacks, sondern wegen der Geschichten dahinter – weil sie das Bonbon an ihre Kindheit erinnere, als ein gleiches Bonbon in ihrer Hosentasche klebte...
Das Gewicht von Erinnerung(en) mag auch mit dem Alleinsein in der Fremde zu tun haben. Eine Klubleiterin erklärt (während hinter ihr eine Pinkfarbene am Klavier einem älteren Herren Gesangsunterricht gibt), dass die Älteren zu ihr kommen, weil sie Gespräche suchten und jemanden, der zuhöre.
Eine alte Frau singt: Wu nemt men melach, machn die warnitschkes… as ich bin alejn ohn melach, ohn feffer, ohn schmalz… – »Wenn meine Tochter glücklich sein wird, werde ich es auch sein«, sagt sie, die selbst viel Leid und Einsamkeit erlebt hat. Auch das Lächeln über den Veteran – der sich (16 Orden links, acht Medaillen rechts) mit einem gewaltigen Kriegsschiff auf dem Arm ablichten lässt und dessen Wohnung übersät ist mit selbst gesägten, geklebten, bemalten Modellen von Flugzeugen, Waffen, Panzern – vergeht einem, wenn wie eine Entschuldigung der Satz kommt: »Ich lebe allein… da habe ich angefangen, mich mit diesen Sachen zu beschäftigen…«.
Der Film zeigt auch die Kinder dieser Veteranen, die »Mittelalter«, wie ein Ehepaar »mit falschem Beruf«, die sich komplett umorientieren mussten und nun einen kleinen Tante-Emma-Laden betreiben, der nicht besonders läuft; und er zeigt die, die sich scheinbar mühelos in beiden Welten bewegen: die Enkel, die Jungen.
Äußerlich unterscheiden die sich in nichts von ihren hier geborenen Altersgenossen; bei der Jom Haatzmaut-Party sehen alle wie Ken und Barbie aus und die Geschwisterzwerge auf der Bühne singen alle gleich falsch: »Kachaol we lawan, ha’zewa scheli-hi-hi«. Und plötzlich scheint es viel schwerer, die Welten der Alten und der Jungen zusammenzudenken als die von Zu- oder Nichtzugewanderten.
Ein hipper junger Schneider, der feine handbestickte Spitzenblusen nach Zwetajewa-Gedichten kreiert, erzählt, er sei mit russischer Kultur, Literatur und Musik aufgewachsen. Wenn er Besuch aus Russland bekäme, würde der allerdings meinen, er sei schon sehr deutsch geworden. Aber: »Ich bin mal zuhause hier, und mal nicht… das ist zwiespältig, dreispältig«, sagt er, der jüdisch-russisch-deutsche Schneider.
Festlegen will oder kann sich niemand so recht. Ein Klarinettist, der in einer Fabriketage Mozart spielt, erinnert sich an seine Stadt Kasan, die erste Liebe, die ersten Erfolge – Dinge, die zum Heimatgefühl dazugehörten wie die Sprache. Das ließe sich nicht nachholen. Aber irgendwie fühle er sich schon zuhause hier und auch seine »jüdische Seite ist hier viel stärker geworden«. Das gebe ihm Kraft. Ein anderer junger Mann sagt etwas Ähnliches und es wirkt fast irritierend, dass er es positiv meint: erst in Deutschland habe er gelernt, was es heißt, Jude zu sein.
Selbst die alten Rotarmisten sehen sich weniger im »Land der Täter« als in dem der Besiegten und (von ihnen) Befreiten. Dabei zeigen sie eine fast unheimliche Größe, und Weisheit. Derselbe, der sagt: »Mein Hass auf die zweibeinigen Tiere war grenzenlos«, kann auch sagen, dass er die heutigen Deutschen nicht verantwortlich macht für das Leid seines Volkes. Der Älteste (98) und Verschmitzteste von allen (den man am liebsten auf der Stelle adoptieren würde), ist »von Natur aus Optimist« und glaubt »immer daran, dass es besser werden muss«. Und der Veteran, der seine Auszeichnungen »1. und 2. Klasse« für »aktive Kampfhandlungen« zeigt, erklärt zugleich: »Ich wusste, wenn wir nicht siegen, wird es keine Juden mehr geben.« – Das ist auch Dalia, der Sozialarbeiterin aus Frankfurt, sehr bewusst: »Sie haben uns befreit, ich meine das ganze russische Volk. Sie haben die höchsten Opfer gebracht. Ich muss weinen, wenn ich sie sehe, mit ihren Orden… Ich hätte einen ganzen Teil meiner Familie nicht, ohne sie.«
Gewidmet den jüdischen Kämpfern in der Roten Armee – steht im Abspann des Films. Mazel Tov! Zu sehen am 6. Mai um 20 Uhr im Arsenal und am 9. Mai um 18 Uhr im Filmmuseum Potsdam.
Judith Kessler
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