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Gespräch mit dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Dr. Gideon Joffe, nach der Wahl zur 20. Repräsentantenversammlung

04.September 2023 | Beiträge – jüdisches berlin | Medien, jüdisches berlin, Politik, Gesellschaft

für das Gemeindemagazin "jüdisches berlin"

JB: Wie hoch war die Wahlbeteiligung?

Die Wahlbeteiligung lag bei 18 Prozent. Es gab 7233 Wahlberechtigte, 1288 haben von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. Rund 150 abgegebene Stimmen waren ungültig.

JB: Wie hoch ist die Mitgliederzahl der Gemeinde?

Es gibt 8300 Mitglieder. Und ja, wir verlieren Mitglieder, aber nicht durch Austritte. In unserer überalterten Gemeinde verlieren wir in erster Linie die Mitglieder aufgrund von Sterbefällen. Seit 2012 haben wir 2100 Beerdigungen durchgeführt– mögen sie in Frieden ruhen! Mehr als 1000 Mitglieder haben wir durch Austritte und Wegzug aus Berlin verloren. Auch wir haben zu wenige neue Mitglieder. Ja, die Gemeinde schrumpft, aber vor allem wegen der Todesfälle.

JB: Ist die Wahlbeteiligung hoch oder niedrig?

Die Wahlbeteiligung ist hoch, wenn wir sie zum Beispiel mit der Wahlbeteiligung an Kirchenparlamenten vergleichen. Auch im Vergleich zur letzten Wahlperiode ist die Wahlbeteiligung hoch. Letztes Mal sind die Wahlen bei uns komplett ausgefallen, weil sich kein Kandidat zur Wahl aufgestellt hat. Aber die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde sind in der Regel sehr engagierte Wähler und wir haben auch schon höhere Wahlbeteiligung in der Gemeinde erlebt.

JB: Warum ist die letzte Wahl im Jahr 2019 in der Jüdischen Gemeinde ausgefallen und warum sinkt die Wahlbeteiligung?

Der Stuhl des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde war nach den Zeiten von Heinz Galinski sel.A. immer wie ein Schleudersitz. Kaum saß jemand drauf, war er auch schon wieder weg. Das einzige was stetig blieb und wuchs war unser Schuldenberg. Bei meinem Amtsantritt vor 12 Jahren waren wir fast zahlungsunfähig. Wir sind der erste Gemeindevorstand, der die Schulden komplett bereinigt hat. Wir sind der erste Gemeindevorstand, der wieder jüdische Institutionen eröffnet, sei es im Bereich Schule, Kita oder Synagoge. Wir sind der erste Gemeindevorstand, der den letzten übriggebliebenen Rest an Gemeindevermögen nicht verkauft hat, sondern hütet. Die Mitglieder sind zufrieden. Auf jeden Fall hatten wir eine höhere Wahlbeteiligung als die Gemeinde verschuldet war und es viele Lösungsvorschläge für den Abbau der Schulden gab. Das ist ein Fakt.

JB: Aber warum dann die negative Presse zum Wahlkampf, wenn die Mehrheit der Mitglieder zufrieden ist?

Negativpresse gibt es seit Jahrzehnten zu jeder Wahl in der Jüdischen Gemeinde. Jeder kann das googeln. Auch der Zentralrat mischt sich immer ein, mal mehr und mal weniger verdeckt. Der Bürgermeister wird aufgerufen, kein Geld an die Gemeinde mehr auszuzahlen. Das alles ist kalter Kaffe.

JB: Tikkun hat veröffentlicht, dass Mitglieder den Bürgermeister um Hilfe bitten.

Ja, Beschwerdebriefe und Negativpresse sind nur die Spitze des Eisbergs. Die Methoden, die die Gruppe bzw. ihre Unterstützer aber in der Tiefe anwendet -  Auflauern, Beschattung, Bedrängung, Bedrohungen von Kandidaten, Repräsentanten, Mitgliedern und Mitarbeitern bei der Arbeit, zuhause oder unterwegs - ist an Niedertracht kaum zu überbieten. Es war noch nie so schwer, Mitglieder von einer Kandidatur  zu überzeugen, weil die Angst vor Medienhetze und Rufmord so vorherrschend ist. Nach diesen Geschehnissen, die alle Mitarbeiter und viele Mitglieder in unserer Gemeinde mitbekommen haben, sich zum Opfer zu stilisieren und öffentlich ganz harmlos und unschuldig um Hilfe zu bitten, das ist die Pervertierung in Reinform.

JB: Tikkun beschwert sich, dass die Wahlen nicht geheim durchgeführt werden konnten, weil die Mitglieder für die Briefwahl eine Kopie ihres Ausweises mitschicken sollten. Hat Tikkun Recht?

Dieser Punkt passt auch wieder in die Verhunzung von Tatsachen. Meine Vorgängerin hat die Wahlordnung geändert und genau diese Regelung in die Wahlordnung reingeschrieben. Wir haben diese Regelung mit der Kopie des Ausweises von ihr nur übernommen, und zwar fast im Wortlaut. Selbstverständlich bleibt die Wahl weiterhin geheim, da die Kopie des Ausweises nicht in den Briefumschlag mit dem Stimmzettel versendet wird. 

JB: Warum hat die ehemalige Vorsitzende, Frau Süsskind, die Wahlordnung so geändert, dass die Kopien der Ausweise beigelegt werden mussten, um abstimmen zu dürfen?

Das hing mit einem Vorfall zum Ende ihrer Amtszeit zusammen. Von ein und derselben Faxnummer gingen etwa 100 Faxe ein mit mehr als doppelt so vielen Namen von Gemeindemitgliedern mit der Bitte um Zusendung von Wahlunterlagen. Hier plante ein Kandidat ganz klar Wahlmanipulation. Ich konnte daher diese Maßnahme von meiner Amtsvorgängerin gut nachvollziehen.

JB: Tikkun und der Zentralrat fordern Wiederholdung. Wie stehen Sie dazu?

Meine Amtsvorgängerin, Frau Süßkind, und der Zentralratspräsident, Herr Schuster, sind zwei alte Hasen was Wahlen in der Gemeinde angeht. Die haben beide so einige Wahlrunden mehr erlebt als ich. Und trotzdem reicht meine Erfahrung aus, um zu sagen: Ich garantiere und gebe Brief und Siegel drauf, dass Tikkun und der Zentralrat ganz sicher keine Wahlwiederholung wollen. Das ist einfach wieder so eine unseriöse Krawallforderung.

JB: Warum ist die aktuelle Forderung des Zentralrats und von Tikkun nach Wahlwiederholung im Dezember 2023 reine Krawallmache?

Ich sitze durchgehend seit 20 Jahren im Parlament der Jüdischen Gemeinde, mal auf der Oppositions-, mal auf der Regierungsbank. Die Vorgängergruppen von Tikkun haben wiederholt einen Wahlgewinn mit viel Presse-Trara angefochten. Zwei Mal hat eine Wahlwiederholung stattgefunden und alle beiden Male haben die Gewinner der ersten Runde bei der Wiederwahl noch mehr Stimmen geholt. Das war 2003 und 2011.

JB: Warum schießt man sich mit Anträgen auf Wahlwiederholung ein Eigentor?

Ganz einfach: Die Wähler fühlen sich übergangen und stimmen aus Dafke noch mehr für den Gewinner aus der ersten Runde. Tikkun und der Zentralrat bluffen, wenn sie jetzt nach Wahlwiederholung rufen. Wohlgemerkt, sie täuschen nicht die Mitglieder, denn die wissen Bescheid. Sie versuchen die Öffentlichkeit zu täuschen.  

JB: Der Fairness halber muss man festhalten, dass die Tikkun-Vorgänger auch einmal gewonnen haben. Was waren die wichtigsten Amtshandlungen ihrer Amtsvorgängerin?

Den Gemeindemitgliedern sind vor allem folgende Amtshandlungen des Süßkind-Vorstands in Erinnerung geblieben, die bis heute immer wieder thematisiert werden: Erstens, der Verkauf einer wunderschönen Großimmobilie in Prenzlauer Berg. Zweitens, der Verkauf einer Großimmobilie in Pankow. Drittens, der Verkauf einer Großimmobilie in Schöneberg. Viertens, die Schließung der Jüdischen Realschule ohne auch nur einen Gedanken an Ersatz für unsere Schüler zu verschwenden. Fünftens, die Einführung der Kopie des Personalausweises bei den Briefwahlunterlagen. Sechstens, nichts gegen den sexualisierten, seriellen Machtmissbrauch des Rabbiners unternommen zu haben, trotz Warnhinweisen. Siebtens, Planungen zur Schließung des Pflegeheims. Achtens, die Abschaffung der Versorgung für neu eingestellte Mitarbeiter. Neuntens: Die plötzliche Anschaffung von etwa 15 Dienstwagen. Zehntens, als erste Person in der Geschichte der Gemeinde vor der Verantwortung geflohen zu sein und sich nicht mehr zur Wahl gestellt zu haben.

JB: Was würden Sie als Ihre wichtigsten Amtshandlungen bezeichnen?

Erstens, die Lösung und Rückzahlung der jahrzehntelang überzahlten Betriebsrenten. Zweitens, den ausgeglichenen Haushalt nach jahrzehntelanger Überschuldung. Drittens: Die Erweiterung des jüdischen Friedhofs Heerstraße nach jahrelangen Verhandlungen. Viertens: Die Eröffnung einer sephardischen Synagoge. Fünftens: Die Wiedereröffnung der jüdischen Realschule. Sechstens: Die Eröffnung der ersten jüdischen Krippe in Berlin. Siebtens: Die Eröffnung mehrerer Kitas. Achtens: Die Zentralisierung der über ganz Berlin zerstreuten Verwaltung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin unter einem Dach. Neuntens: Die IT-Ausstattung unserer Schulen, dank derer die jüdischen Schulen zur Coronazeit berlinweit mit die ersten bei der reibungslosen Umstellung auf Online-Unterricht waren. Zehntens: Die Änderung der Wahlordnung zur Repräsentantenversammlung für eine moderne und finanziell stabile Gemeindeführung einer lebendigen und anpassungsfähigen Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

JB: Das Wahlbündnis Tikkun mit seinen vier Kandidaten ist zurückgetreten. Was sagen Sie dazu?

Einige Tikkun-Unterstützer saßen während meiner ersten beiden Legislaturen in der Opposition. Diese Opposition ist geschlossen über Monate und Jahre nicht zu den Parlamentssitzungen erschienen. Ihre Stühle waren bei jeder Sitzung leer. Sie legten das Parlament lahm, weil es teilweise beschlussunfähig war. Wenn ich an diese Vorgänger der Tikkun-Gruppe denke, dann scheint es für alle besser, wenn Kandidaten rechtzeitig aussteigen, statt nach der Wahl Stühle zu blockieren und andere engagierte KandidatInnen von der Parlamentsarbeit abzuhalten.

JB: Das Wahlbündnis Tikkun sagt, dass es zurückgetreten sei, weil die Gemeindewahl illegal sei.

Zu jeder Wahl geben sich Gruppen um meine Amtsvorgängerin neue Namen, etwa Schalom, Emet, Atid, Tikkun etc. Wenn sie verlieren – und sie verlieren nun Mal in Serie – holen sie den Zentralrat ins Boot und gehen wie wild auf die Barrikaden. Als Wahlverlierer habe ich damals die Schuld nicht anderen gegeben, sondern sie bei mir gesucht – und auch gefunden und die nächsten Wahlen gewonnen.

JB: Das Gericht beim Zentralrat verbietet die Wahl. Warum halten Sie sich nicht an den Beschluss des Zentralrats?

Wir halten uns nicht an den Zentralrat, sondern an die Gesetze der Bundesrepublik. Das ist für uns die oberste Priorität. Nach den Gesetzen der Bundesrepublik haben unsere Juristen eine Satzung für die Jüdische Gemeinde ausgearbeitet, gemäß derer ein Schiedsgericht eingesetzt wurde. Die Entscheidungen dieses Schiedsgerichtes sind für uns bindend. Es liegt ein endgültiges Urteil des zuständigen und unabhängigen Schiedsgerichtes bei der Jüdischen Gemeinde zu Berlin vor. Das Urteil des zuständigen Gerichts verbietet uns, einen vorläufigen Beschluss des unzuständigen Zentralratsgerichts zu befolgen. Für die Jüdische Gemeinde zu Berlin ist das Urteil des unabhängigen und zuständigen Schiedsgerichts endgültig. Das Urteil eines unzuständigen Gerichts hat keine Bedeutung.

JB: Aber der Zentralrat erklärt sich für zuständig…

Der Zentralrat hat vor einem halben Jahr auf die Schnelle ein Gericht ins Leben gerufen, um seinen sogenannten Gerichtshof wirkungsmächtiger erscheinen zulassen. Die Bezeichnung „Gerichtshof“ mag nicht-jüdische Außenstehende sehr beeindrucken, die Jüdischen Gemeinden nicht. Tatsache ist, dass sich Gerichte, ob mit oder ohne Hof, sich in Deutschland an Gesetze halten müssen und sich nicht selbst für irgendetwas zuständig erklären können. Die Jüdische Gemeinde zu Berlin ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts und gemäß Religionsgesetzen autonom. Wenn das Gericht beim Zentralrat Hoheitsrechte über unabhängige Gemeinden beansprucht und in die Autonomie der Jüdischen Gemeinde eingreifen möchte und die Gemeinde das auch möchte, brauchen wir im Parlament einen 2/3-Mehrheitsbeschluss. Wir haben nie darüber im Parlament abgestimmt, nie Rechte übertragen. Das Gericht beim Zentralrat ist eindeutig nicht zuständig,

JB: Gab es in der Vergangenheit ähnliche Situationen mit dem Zentralrat?

Der Zentralrat versucht ständig in die autonomen Jüdischen Gemeinden einzugreifen, insbesondere in Berlin. Der Generalsekretär des Zentralrates hat sich sogar über die Vorgängerpartei von Tikkun zur Parlamentswahl der Jüdischen Gemeinde aufgestellt. Der Zentralrat greift ständig mal mehr und mal weniger verdeckt in die Wahlen der Jüdischen Gemeinde ein, aber nur, wenn KOACH gewinnt. Er ergreift ganz eindeutig Partei und versucht eine ihm genehme Führung zu installieren. Die Eingriffe des Zentralrates auch in andere Gemeinden deutschlandweit sind an Chuzpe kaum zu überbieten. Wir Jüdischen Gemeinden sind völlig unabhängig von Zentralrat. Der Zentralrat ist ein Dachverband, der sich für jüdische Interessen in Deutschland einsetzten soll. Je stärker die Jüdischen Gemeinden ihre Autonomie verteidigen, desto stärker ist der Zentralrat, weil sich der Zentralrat aus den Jüdischen Gemeinden in Deutschland zusammensetzt.

JB: Vielen Dank für das Gespräch.

Auch ich möchte einen Dank aussprechen. Ich möchte mich sehr herzlich bei allen Kandidaten von KOACH bedanken, dass sie bei der Reform unserer Gemeinde dabeibleiben. Ich bedanke mich herzlichst bei der Mehrheit unserer Mitglieder für Ihr Vertrauen und verspreche und gelobe allen Mitgliedern gegenüber auch in dieser vierten Legislatur nach bestem Wissen und Gewissen unsere Gemeinde weiterhin finanziell stabil zu führen und jüdisches Leben in Berlin weiter zu stärken und weiter zum Blühen zu bringen.

Gespräch mit dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Dr. Gideon Joffe, nach der Wahl zur 20. Repräsentantenversammlung