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Für und wider »Pro Reli«
01.November 2008 | Beiträge – jüdisches berlin | Religion
Derzeit werden in Berlin Unterschriften für das Volksbegehren »Pro Reli« gesammelt. Die Initiatoren wollen erreichen, dass Schüler künftig zwischen dem bisher alleinigen (neutralen) Pflichtfach Ethik und dem noch freiwilligen Zusatzfach (evangelische, katholische, islamische, jüdische) Religion entscheiden sollen. Zwei Meinungen zum Thema:
PRO
Bei der Diskussion um Religionsunterricht an staatlichen Schulen geht es an die Substanz – es geht um unser Selbstverständnis als Juden in einer nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft –, und das auch noch in Deutschland!
Ein »weltanschaulich neutraler« Ethikunterricht klingt auf den ersten Blick verlockend – die Kinder und Jugendlichen beschäftigen sich gemeinsam, unabhängig von ihrer Herkunft oder Religion mit wichtigen und guten Themen wie »Identität«, »Verantwortung« oder »Schuld, Pflicht und Gewissen«.
Jedoch: die weltanschauliche Neutralität, wie sie die Vertreter des Pflichtfaches Ethik voraussetzen, ist nicht möglich: Menschen haben eine eigene Geschichte und eigene Standpunkte. Als religiöse Minderheit erleben wir tagtäglich, wie sehr die Mehrheitsgesellschaft christlich geprägt ist – selbst Kritik an Religion ist meistens Kritik an der christlichen Religion!
Erst langsam entsteht in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein, dass auch andere Religionen gesellschaftlich relevant sind – zu häufig wird dabei jedoch nur der Islam, und zwar als Bedrohung, wahrgenommen. Es ist entscheidend, dass die religiösen Minderheiten – und damit auch die jüdische – ihren Platz im öffentlichen Raum beanspruchen. Sowohl physisch, durch den Bau von Synagogen, als auch geistig, durch die Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs. Gerade als Jüdische Gemeinde sind wir oft zu sehr mit uns selbst beschäftigt und unsere Stimme erklingt zu selten zu gesellschaftlich relevanten Themen!
Wenn es um die Werte-Vermittlung geht, sind sich die großen Religionen und der Berliner Ethik-Rahmenlehrplan in Vielem einig. In den verschiedenen religiösen oder philosophischen Traditionen werden dieselben Werte jedoch ganz unterschiedlich verankert. Ein neutraler Ethikunterricht beraubt die Kinder und Jugendlichen der Möglichkeit, sich in ihrer eigenen Tradition zu verankern. Diese Verankerung muss zunächst gelehrt und gelernt werden, bevor die Kinder und Jugendlichen miteinander sinnvoll ins Gespräch kommen können. Jugendliche in der 7. Klasse sind überfordert, wenn sie in einem interkulturellen Unterricht Experten für Judentum sein sollen. Ein zusätzlicher, freiwilliger Religionsunterricht, der meist an den Rand der Stundentafel gedrängt wird, kann das ebenfalls nicht leisten.
Ideal wäre, wenn ein gemeinsamer Rahmenplan für Ethik- und Religionsunterricht der verschiedenen Religionsgemeinschaften erarbeitet würde, sodass ausgehend von der jeweils eigenen Tradition und Erfahrung von allen die gleichen Themen mit den gleichen Kompetenzerwerbszielen unterrichtet werden. Nachdem die Themen innerhalb einer Religion erarbeitet wurden, sollen sie dann wieder in das Plenum der Klasse zurückgetragen werden – wofür die Initiative »Pro Reli« vorschlägt, dass ein Viertel des Unterrichts gemeinsam stattfindet.
Dass guter Religionsunterricht der bessere Ethikunterricht ist, möchte ich an einem Beispiel aus dem Rahmenlehrplan Ethik zeigen. Beim Thema »Pflicht« fragt er: »Habe ich die moralische Pflicht, einem Obdachlosen eine Spende zu geben?« Selbstverständlich kann das Thema Kindern aufgrund ihrer eigenen Erfahrung in der U-Bahn und mit allgemeinen Texten aus verschiedenen Traditionen nahe gebracht werden. Jedoch: Wie bereichernd wäre der Unterricht für jüdische Schüler/innen, wenn ausgehend vom Obdachlosen in der U-Bahn der Begriff »Mizwa« in seiner ideengeschichtlichen Vielfalt eingeführt und das Thema »Zedaka« behandelt würde, mit klassischen jüdischen Texten und Beispielen aus Jahrhunderten jüdischer Geschichte? Wenn dann im letzten Teil jüdische, christliche und muslimische Jugendliche zusammenkommen, um das erarbeitete Eigene miteinander zu teilen, dann findet wirkliche Begegnung auf der Grundlage eigener reflektierter Identität statt.
Das Grundgesetz hat sich – als Konsequenz aus dem totalitären Anspruch des Nationalsozialismus – beschränkt und den Unterricht in Ethik und Moral aus der Gewalt des Staates an das Gewissen des Einzelnen und an die Religionen verwiesen und ermöglicht diesen auch an öffentlichen Schulen. Diese staatliche Beschränkung und die dadurch gewonnene Freiheit sollten wir nicht aufgeben.
Rabbinerin Gesa Ederberg
Weitere Informationen zur Pro Reli-Initiative: www.freie-wahl.de
CONTRA
Während meiner 20-jährigen Lehrertätigkeit an einer Gesamtschule in einem sozial belasteten Innenstadtbezirk Berlins hatte ich mir oft gewünscht, dass Schüler und Schülerinnen sich in einem eigens ausgewiesenen Schulfach Prinzipien sozial verträglichen Zusammenlebens aneignen. Das Fach Ethik trägt diesem Wunsch Rechnung und soll Defizite ausgleichen helfen, zumal andere Erziehungsinstanzen (Familie, Straße, Medien) gar nicht oder destruktiv auf die Charakterbildung von Kindern und Jugendlichen einwirken.
Im Pflichtfach Ethik müssen selbstverständlich alle Schülerinnen und Schüler einer Klasse und somit die von ihnen vertretenen religiösen Bekenntnisse anwesend sein, auch um unter diesem Blickwinkel Kenntnisse, Verständnis und Respekt wechselseitig zu entwickeln. Ich meine, von Angehörigen eines religiösen Bekenntnisses verlangen zu können, dass sie einen entsprechenden Religionsunterricht, der als Bekenntnisunterricht definiert ist, zusätzlich und außerhalb des Rahmens staatlicher Beschulung besuchen. Die klare Trennung von Staat und Religionsgemeinschaft ist ein hohes Gut. Daraus folgt, dass die Beschäftigung mit religiösen Dingen Privatsache ist und auch weiterhin bleiben muss.
Der Titel des Volksbegehrens »Pro Reli« (= für Religion) ist eine hohle Phrase, die darüber hinaus die unausgesprochenen Absichten der Initiatoren kaschiert und folglich irreführend ist. Denn ein besonderes oder zusätzliches Engagement für Religion ist damit nicht verbunden. Im Gegenteil: Schüler und Schülerinnen sollen mittels staatlich sanktionierter Schulpflicht am Religionsunterricht teilnehmen, was sie bislang freiwillig taten oder kein Interesse daran hatten.
Diese Absicht der Initiatoren des Volksbegehrens wird nirgends erwähnt, liegt jedoch auf der Hand: Indem nach ihrem Konzept Religion zum Wahlpflichtfach würde, denn das bedeutet, zwischen Religion und Ethik wählen zu können, aber auch zu müssen, würde das gegenwärtige Schattendasein des Religionsunterrichts (mit staatlicher Hilfe) beendet. (An meiner Schule mit 400 Schülern und Schülerinnen nehmen 10 am Religionsunterricht teil.)
Es darf aber auf keinen Fall dazu kommen, dass es zur Aufgabe des Staates wird, den Religionslehrern und -lehrerinnen die Klassen zu füllen. Dies obliegt der Anstrengung der Religionsgemeinschaften.
Würde das Volksbegehren erfolgreich sein, in einen Volksentscheid münden und gegebenenfalls die Schulgesetzeslage entsprechend ändern, muss mit einer verheerenden Folge gerechnet werden, die das Gegenteil zu der von mir im ersten Absatz genannten pädagogischen Hoffnung beinhaltet. Faktisch bedeutet die Unterschrift den Wunsch, dass Angehörige einer Religion sich von in der Schule vermittelter ethischer Verantwortung für die Gesellschaft verabschieden dürften. Auch die als so dringend geforderte Integration unterschiedlicher Kulturen und Traditionen wäre damit in diesem so elementaren Bereich menschlichen Zusammenlebens verhindert. Denn die Konstellation Wahlfreiheit zwischen Ethik und Religion bedeutet Segregation!
Überträgt man die propagierte Wahlfreiheit von der Schule auf die Welt der Erwachsenen, so hieße das, dass auch Standesämter (wie im Deutschen Reich vor dem Bismarckschen Kulturkampf) zu Wahlinstanzen würden und z. B. die wahlfrei religiös geschlossene Ehe ebenfalls amtlichen Status bekäme. (Bundesländer, die über ihr Schulwesen in Kultusministerien entscheiden lassen, sollten für Berlin nicht zu Vorbildern werden.)
Itai Axel Böing
Weitere Informationen zur Pro Reli-Initiative: www.freie-wahl.de
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