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Freiheit muss immer wieder neu verstanden werden
01.April 2020 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage
Gedanken zu Pessach von Gemeinderabbinerin Gesa Ederberg
»In jeder Generation ist es unsere Aufgabe, uns selbst zu sehen als diejenigen, die aus Ägypten ausgezogen sind«. So heisst es in der Haggada, in der Erzählung, die den Rahmen für die Seder-Feiern am Pessachfest bildet.
Mehr als 3000 Jahre ist es her, dass eine Gruppe von Sklaven in die Freiheit zog, und doch feiern wir das Pessachfest, als ob die Befreiung gerade erst stattgefunden habe. In jüdischen Kindergärten und Schulen überall auf der Welt backen die Kinder Mazzot und üben die alten Melodien.
»Mama, warum hat Pharao die Hebräer so hart arbeiten lassen?« Oder auch ganz praktisch: »Wie hat man früher vor Pessach geputzt, als es noch keinen Staubsauger gab?«
In der Tora heißt es: »Wenn dein Kind dich zukünftig fragt: Was bedeuten diese Zeugnisse, Vorschriften und Regeln, die Der Ewige, unser Gott euch gegeben hat, sollst du deinem Kind antworten: Wir waren Sklaven des Pharao in Ägypten und der Ewige hat uns mit starker Hand aus Ägypten herausgeführt. Und der Ewige brachte Zeichen und Wunder über Ägypten, uns aber führte er heraus, um uns heimzuführen in das Land, das Gott unseren Vätern versprochen hat.«
Schon im biblischen Text ist es ein Anliegen, dass aus Geschichte Gegenwart wird, dass vergangene Ereignisse in der Gegenwart verstanden und relevant werden. Nicht umsonst gehört es zum Sederabend, dass man in ein Stück scharfen Meerrettich beisst, um an die Bitterkeit der Sklaverei in Ägypten zu erinnern. Und die vergangenen Sederfeiern vermischen sich mit den unseren – 3000 Jahre jüdische Geschichte werden lebendig an jedem Tisch.
Für die jüdischen Gemeinden im Mittelalter waren die Pessach-Feiern häufig überschattet: Zum ersten Mal war im Jahr 1144 in Norwich in England das Gerücht aufgekommen, die Juden hätten einen jungen Mann, William, geschlachtet, um sein Blut in den Mazzot zu verbacken. Immer wieder taucht diese Ritualmordlegende auf – und immer wieder beginnen Pogrome gegen die jüdischen Gemeinden in den Tagen um Ostern und Pessach. Noch 1903 wird so ein Pogrom in Kishinev in Bessarabien ausgelöst, mit zig Toten und Hunderten von Verletzten.
Mitten in der Verfolgung finden sich Jüdinnen und Juden zusammen, um an die Befreiung aus Ägypten zu erinnern, und so die eigene Hoffnung auf Befreiung aufrecht zu erhalten. Selbst in Gefangenschaft, selbst im Konzentrationslager, wurde Pessach gefeiert. Ohne Bücher, ohne die rituellen Speisen – doch die Bitterkeit der Sklaverei war gegenwärtig, und die Hoffnung war, den nächsten Tag zu erleben. Von 1944, aus Bergen-Belsen, ist ein Gebet überliefert: »Gott, du weißt, dass wir Pessach feiern wollen wie es sich gehört – Mazza zu essen und kein Gesäuertes. Doch wir befinden uns in Lebensgefahr und haben keine Wahl. Siehe wir erfüllen dein Gebot: »Ihr sollt durch die Gebote leben und nicht sterben.« Wir beten zu dir, du mögest uns am Leben erhalten und uns erretten, sodass wir bald wieder ein Leben führen können in Erfüllung deines Willens.«
Und dann der erste Sederabend nach der Befreiung. Vielleicht noch in einem Lager in Deutschland, vielleicht unterwegs auf einem Schiff in die USA, vielleicht schon in einer Baracke in einer Einwandererstadt in Israel. Doch wie zerbrechlich und unwirklich war diese Freiheit: noch wusste man nicht, wer von der Familie überlebt hatte und wie das Leben weitergehen sollte.
Als in den 70er-Jahren Juden in der Sowjetunion inhaftiert wurden, weil sie sich mit jüdischen Themen beschäftigten, Hebräisch lernten und nach Israel auswandern wollten, wurden ihre Erfahrungen als Aktualisierung in die Haggada eingefügt – und der Ruf »let my people go« richtete sich an Breschnew. Als in den 80er-Jahren die äthiopischen Juden vor der Hungersnot gerettet und nach Israel gebracht wurden, nannte man das »Operation Moses«– ein Exodus, wo aus Adlers Schwingen Flugzeuge wurden.
Vom ersten Pessach, dem hastigen Mahl vor der Befreiung aus Ägypten, reiht sich eine Kette durch die Jahrtausende und über alle Kontinente. Die Jahrhunderte und die Orte vermischen sich: Spanien zur Zeit der Inquisition, Shanghai 1946, Babylon im 7. Jahrhundert oder Berlin heute.
»In jeder Generation ist es unsere Aufgabe, uns selbst zu sehen als diejenigen, die aus Ägypten ausgezogen sind«. Und in jedem Jahr fragen wir uns neu, wo erleben wir Unterdrückung und Sklaverei und wo ist Befreiung notwendig – im Großen wie im Kleinen.
Die Rituale und die Texte der Haggada sind alt, sie haben jedoch eine ganz eigene Kraft, die sie immer wieder aktuell macht. Es sind die Kinder, die den Abend eröffnen mit ihrer Frage: »Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten« – doch auch die Erwachsenen fragen sich und bringen ihre Erfahrungen in jedem Jahr neu ein. Heute haben die meisten Juden und Jüdinnen das Glück, nicht verfolgt zu sein und ihre Religion frei ausüben zu können. Wir gewinnen die Freiheit, für andere einzutreten.
Befreiung muss immer wieder neu verstanden werden. In jedem Jahr und an jedem Ort bedeutet Sklaverei etwas anderes – und Freiheit etwas anderes. Nur wenn wir uns selbst sehen und erkennen, wissen wir, was unsere Befreiung ist, und wo wir Grund zum Feiern haben!
jüdisches berlin
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