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Fragen an Hetty Berg, Direktorin des Jüdischen Museums
01.April 2021 | Beiträge – jüdisches berlin | Kultur, Gesellschaft
Hetty Berg ist seit April 2020 die leitende Direktorin des JMB. Zuvor war sie jahrelang Chefkuratorin des Jüdischen Kulturviertels in Amsterdam. Da die von der Jüdischen Volkshochschule Berlin geplanten Veranstaltungen mit Hetty Berg wegen der Corona-Präventivmaßnahmen leider nicht stattfinden konnten und in den Spätsommer verschoben wurden, hier ein Interview mit Hetty Berg.
Aus aktuellem Anlass: Wie positioniert sich das Jüdische Museum gegen antisemitische Verschwörungsmythen im Zuge der Corona-Krise? Sehen Sie für die Direktion des Museums eher einen Aufklärungs- oder einen Bildungsauftrag?
Ich sehe für mich und für das Jüdische Museum Berlin als Institution beide Aufträge in einem – Bildung ist ja letztlich auch eine Form von Aufklärung.
Die zunehmenden Anfeindungen gegen Juden in diesen Zeiten, wo sich im Corona-Protest Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus mischen, erfüllt mich wie viele andere in diesem Land mit Sorge. Vor diesem Hintergrund ist es unser wichtigster Auftrag – und die größte Herausforderung – dass das JMB ein geschützter Raum mit offenen Debatten und Begegnungen bleibt – und dass Debatten überhaupt stattfinden können.
Und um unseren Bildungs- bzw. Aufklärungsauftrag zu ergänzen: Hier ist natürlich besonders ein Angebot für junge Menschen wichtig. Wir haben zum Beispiel im letzten Sommer einen neuen Workshop für Schülerinnen und Schüler konzipiert, der sich mit antisemitischen Verschwörungsmythen beschäftigt – ganz aktuell auch im Hinblick auf Corona. Die Schüler lernen hier, unterschiedliche Perspektiven von Verschwörern und Skeptikern einzunehmen und erfahren spielerisch, wie man eine Verschwörungserzählung erfindet, wie sie gebaut ist – und wie man sie entlarven und ihr entgegentreten kann. Das ist ein wichtiger Lernprozess, der nicht früh genug beginnen kann.
Das Jüdische Museum beleuchtet Themen, Aspekte und Ausstellungen aus jüdischer Perspektive. Nun wissen wir, dass das jüdische Leben sehr divers ist. Welchen Eindruck vom deutschen Judentum möchten Sie dem Besucher nach seinem Besuch im Jüdischen Museum vermitteln?
Es ist unser Ziel, jüdische Kultur und Geschichte aus dem Blickwinkel unserer Gegenwart darzustellen. Einer Gegenwart, die einerseits von der Tatsache geprägt ist, dass sich in Deutschland wieder vielfältiges jüdisches Leben entwickelt hat, aber andererseits auch von zunehmender Diskriminierung und Gewalt gegen Juden. Wir greifen diese und andere aktuellen Entwicklungen – Migration, Diversität, eine sich verändernde Erinnerungskultur, ein sich erhitzendes gesellschaftliches Klima – auf. Das Jüdische Museum Berlin versteht sich also keinesfalls als Ort, wo die Überreste einer verschwundenen Kultur bewahrt werden, sondern wir betonen die Vitalität und Vielfalt der jüdischen Kulturen in Deutschland. Wenn Besucherinnen und Besucher davon etwas mitnehmen, also dass jüdisches Leben nicht nur Vergangenheit, sondern auch Gegenwart bedeutet, dann haben wir schon viel erreicht.
Welchen Rahmen geben Sie den jüdischen Feiertagen? Gibt es Ausstellungen und Erklärungen zu den Festen? bzw. Wie etablieren Sie jüdische Kunst und Kultur im Museum?
In diesem Jahr fällt es leider pandemiebedingt aus, aber in der Regel haben wir in jedem Jahr ein neugestaltetes Kinder- und Jugendprogramm zu jüdischen Feiertagen – nicht nur zu Purim, sondern auch zu Pessach, Sukkot oder Chanukka. Chanukka konnten wir im vergangenen Jahr leider wegen Corona auch nicht so ausführlich feiern wie sonst – trotzdem haben wir mit den Musikern von Shtetl Berlin bei uns im Glashof ein großartiges Konzert stattfinden lassen, das live übertragen wurde. Und wir hatten eine sehr schöne Social-Media-Serie: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Museums haben zu sich nach Hause eingeladen – per Kamera, um das Lichteranzünden zumindest in einer digitalen Gemeinschaft zu begehen.
Ansonsten informieren wir ebenfalls über Social Media und auch auf unserer Website in vielen Beiträgen zu den Feiertagen und erzählen von der Entstehung und den Ritualen der Festtage.
Gedenkkultur steht immer wieder im Vordergrund jüdischer Geschichte, doch wie schaffen Sie es, die Aufklärung über die Schoa und den Zweiten Weltkrieg nicht gleichzusetzen mit jüdischer Identität?
Wir versuchen, in unserer neuen Dauerausstellung – und ich denke, das ist gelungen – den Holocaust zwar als Katastrophe unvergleichlichen Ausmaßes, aber nicht als Endpunkt der deutsch-jüdischen Geschichte darzustellen. Mehrere Räume zeigen jüdisches Leben in Deutschland von 1945 bis heute. Diesem Teil der Geschichte geben wir mehr Raum als vorher. Und er wird auch mehr wahrgenommen, wie die Presse-Resonanz zeigt – vor allem die Videoinstallation »Mesubin«, die Jüdinnen und Juden in Deutschland zu einem sehr vielfältigen, vielstimmigen und manchmal dissonanten Chor zusammenkommen lässt.
Etwas Persönliches: Welchen Aspekt bzw. welchen Bereich schätzen Sie am meisten am Jüdischen Museum? Anders: Was ist Ihr persönliches Highlight, Ihre Empfehlung an die Besucher?
Es fällt mir sehr schwer, hier nur ein einziges zu nennen! Was mir sehr gut gefällt, ist die große Abwechslung und Vielfalt, die unsere Dauerausstellung bietet. Das beginnt bei dem Rundgang, der nicht chronologisch durch die 1700-jährige Geschichte führt, sondern der die Epochen mit Einblicken in jüdische Kultur und Tradition unterbricht. Dabei werden Fragen beantwortet, die sich viele unserer Besucherinnen und Besucher aus aller Welt stellen: Was ist der Schabbat? Was ist im Judentum heilig? Welche Gebote gibt es und werden sie von allen Jüdinnen und Juden befolgt? Das Besondere der Ausstellung ist dabei, dass sie nie nur eine, sondern immer verschiedene jüdische Perspektiven und damit auch verschiedene Antworten bietet.
Eine weitere Stärke ist die Vielfalt der Präsentation: Neben Originalobjekten und Kunstwerken zeigen wir Medieninstallationen, Videos, interaktive Spiele und Virtual Reality. Hervorzuhaben ist dabei unsere digitale »Familienwand«, die über 500 Dokumente, Fotos und Alltagsgegenstände aus den Nachlässen von zehn Familien präsentiert. Deren Lebenswege können Besucher hier über Generationen nachverfolgen. Bisher waren viele unserer Sammlungs-Schätze im Depot verborgen. Digitale Formen wie das interaktive »Familienalbum« bieten jetzt die Möglichkeit, einem breiten Publikum mehr davon zugänglich zu machen. Seit 20 Jahren tragen wir das historische Vermächtnis deutscher Juden aus aller Welt zusammen. Unsere Sammlung ist das Herzstück des Museums. In der neuen Dauerausstellung zeigen wir über 1000 Objekte, knapp 70 Prozent stammen aus unserem Bestand. Ein einziger Besuch reicht nicht aus, um diese ganze Vielfalt zu sichten.
Deshalb hoffen wir, dass wir bald wiedereröffnen und zum Festjahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« Besucherinnen und Besucher dazu einladen können, bei uns im JMB diese wechselvolle Geschichte und Gegenwart zu erkunden! Zum Schluss eine gute Nachricht für alle, die noch nicht da waren bzw. noch einmal kommen möchten: Ab der Wiedereröffnung gilt auch bei uns der freie Eintritt!
Die Fragen stellte Adina Schuster, Präsidentin der Jüdischen Studierendeninitiative in Berlin und Brandenburg. www.studentim.de
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