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Existenzielle Fragen
01.Oktober 2024 | Beiträge – jüdisches berlin | Religion
Gedanken zu Jom Kippur von Gemeinderabbinerin Gesa Ederberg
Letztes Jahr zu Jom Kippur haben wir an den 50. Jahrestag des Jom Kippur Krieges erinnert – den bis dahin schlimmsten Überfall auf den Staat Israel. Das schien weit in der Vergangenheit zu liegen, und nur die ältere Generation konnte sich noch an den Schrecken damals erinnern, an die Tage des Bangens um Israels Sicherheit – und natürlich haben wir auch, wie jedes Jahr seit 2019, an den Anschlag in Halle vor vier Jahren erinnert, den einige Mitglieder unserer Synagoge miterlebt haben.
Und als wir das Gebet »Unetane Tokef« gesprochen haben, habe ich daran erinnert, wie die alten Worte »wer wird sterben und wer wird leben, wer durch Krankheit….« vor drei Jahren mit der Corona-Pandemie plötzlich eine erschreckende Aktualität bekommen haben, wie wir damals alle erlebt haben, dass das Leben sich plötzlich viel zerbrechlicher anfühlte.
Und keine vierzehn Tage später brach dann das Grauen über den Süden Israels herein, mit dem Massaker der Hamas. Menschen wurden auf brutalste Weise aus dem Leben gerissen, grausam ermordet und entführt. An Jom Kippur dieses Jahr wird der Jahrestag nach dem bürgerlichen Kalender schon vergangen sein, die Reden werden gehalten sein.
Jom Kippur ist der Tag des Jahres, an dem wir uns die Zeit nehmen, über das vergangene Jahr nachzudenken, wirklich mit uns selbst ins Gericht gehen: Was war gut, was war schlecht, was kann ich im kommenden Jahr anders machen? Und am Ende von Jom Kippur schlagen wir ein neues Blatt im Buch unseres eigenen Lebens auf – nachdem wir in den Wochen vor Jom Kippur die Menschen um uns herum und an Jom Kippur Gott selbst darum gebeten haben, unsere Fehler zu verzeihen und uns einen Neuanfang zu ermöglichen. Aber wie wird das dieses Jahr sein, wenn das ganze vergangene Jahr wie unter einer Wolke stand, mit immer neuen entsetzlichen Bildern und Berichten von den Geiseln, mit einer Menge von antisemitischen Äußerungen und Taten, die wir alle für nicht möglich gehalten hätten? Das ganze Jahr über haben wir uns wie auf zwei Ebenen bewegt, einerseits den Alltag hier in Berlin zu gestalten, so viel Normalität wie möglich zu leben, und andererseits den Nachrichten aus Israel folgend, und die immer neuen Bilder des Antisemitismus weltweit mit Erschrecken wahrzunehmen. Wenn wir jetzt zu Jom Kippur in der Synagoge zusammenkommen, Bekannte und Freunde treffen, uns gegenseitig fragen, wie es geht, dann wird deutlich werden, dass sich für viele fundamental verändert hat, wie sie sich in der Stadt bewegen, ob und wie sie sichtbar jüdisch sind, und mit welchen Befürchtungen und Hoffnungen sie ins nächste Jahr gehen.
Eigentlich ist zu Jom Kippur in der Synagoge eine ganz besondere Atmosphäre – als ob es uns wirklich gelungen ist, den Alltag draußen zu lassen, uns für einige Stunden auf das wirklich Wesentliche zu konzentrieren, wirklich zu versuchen, nicht im Kleinkram unterzugehen, sondern die großen Fragen zu stellen – und vielleicht auch zu beantworten. Dieses Jahr wird es, denke ich, anders sein – anstelle der persönlichen existentiellen Fragen stellen wir die Frage für uns als Gemeinschaft, Jüdinnen und Juden in Deutschland, in Israel und weltweit: Die Situation in Israel, und ihre Auswirkungen auf uns wird uns beschäftigen, wenn wir über das vergangene und das kommende Jahr nachdenken. Was bedeutet es, Jude und Jüdin zu sein? Was geben wir an unsere Kinder weiter? Wie gestalten wir unsere jüdischen Räume angesichts der erschreckenden Ereignisse? Und wie bewahren wir Hoffnung angesichts der düsteren Nachrichten? Mitten in Jom Kippur steht das Jiskor-Gebet, bei dem wir an die Toten erinnern, und ein bisschen später, im Mussafgebet gibt es einen Abschnitt »Ele Eskera«, bei dem der traditionelle Text an zehn jüdische Märtyrer erinnert, die von den Römern getötet wurden. In vielen Synagogen, auch in unserer, ist es üblich, die klassischen Texte mit Texten von heute zu ergänzen, um an andere Verfolgungen zu erinnern. Dieses Jahr werden wir Texte hinzufügen, die nach dem 7. Oktober entstanden sind, ein erster Versuch, Worte zu finden für ein Grauen, das sich eigentlich nicht in Worten ausdrücken lässt.
jüdisches berlin
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