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Ewiger Kampf gegen den Verfall
04.Januar 2011 | Redaktioneller Beitrag | Gemeinde
Die ältesten Gräber auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee sind saniert / Expertenkonferenz im April
Das Grab der Familie Nauenberg ist eine Baustelle. Vor kurzem noch drohte es einzustürzen, es war beschädigt und verwittert, so wie viele Grabstellen an der Mauer des Jüdischen Friedhofs in Weißensee. Wer dort entlangging, konnte nur noch ahnen, wie die Grabstelle der Nauenbergs einst ausgesehen hat, damals im Sommer 1881. Am Vormittag des 14. August 1881 war Ernestine Nauenberg aus der Parkstraße 4 in Pankow im Alter von 60Jahren an Brustdrüsenkrebs gestorben. Ihr Grab war eines der ersten auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee, der anfangs noch "Weißensee'ner Begräbniß-Platz" hieß. "Friede ihrer Asche" steht auf der Tafel. Ihr Mann, Simon Michael Nauenberg, starb vier Jahre später, am 3. Juni 1884, 61-jährig an Blasen- und Lungenentzündung. "Friede seiner Asche".
Die Inschriften sind heute wieder gut zu lesen, das Familiengrabmal steht sicher. Der Steinmetz und Bildhauer Matthias Richter hat die Grabstätte in 50 Teile zerlegt, er erneuerte das Fundament und ersetzte fehlende Stücke des schlesischen Marmors, aus dem damals viele Grabstellen gefertigt wurden. Sechs Monate hat die Sanierung gedauert. "Dieser Marmor wird im Laufe der Jahre sehr bröselig", sagt Richter. Er fällt oft schon auseinander, wenn man ihn nur anfasst.
Blechdach schützt vor Nässe
Zehn der insgesamt 115 100 Gräber auf Europas größtem jüdischen Friedhof sind in den vergangenen Monaten wieder hergerichtet worden, es waren die ältesten, zu ihnen gehörte auch die Grabstelle der Familie Nauenberg. Die sanierten Gräber liegen an der Friedhofsmauer, die den 40 Hektar großen Friedhof umfasst. Auch die Ziegelsteinmauer war an vielen Stellen marode, die Wurzeln von Bäumen und Sträuchern hatten das Mauerwerk auseinandergedrückt und die Grabsteine zum Umfallen gebracht. Wasser drang ins Gemäuer, es gab keinen Schutz. Jetzt haben Handwerker über alle Grabstellen ein Blechdach angebracht, das Regen und Schnee abhält.
Denkmalschützer betreuen die Bauarbeiten auf dem Friedhof. "Wir wollen die Grabstellen in ihrer Originalität erhalten, aber eine Zerstörung verhindern. Das ist eine Gratwanderung", sagt Gesine Sturm vom Landesdenkmalamt Berlin. Die Altersspuren der Gräber sollen erkennbar bleiben. "Jeder Besucher soll sich vorstellen können, wie dieser Friedhof früher aussah."
Und so ist ein Rundgang über den Friedhof eine Reise in die jüdische Geschichte. "Mitglieder aller Schichten der jüdischen Gemeinde ließen sich auf dem Friedhof begraben", sagt Sturm. "Kein Grab gleicht dem anderen." Mit Mitteln aus dem Denkmalpflegeprogramm des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Landes Berlin und der Jüdischen Gemeinde in Höhe von insgesamt 284 000 Euro konnten die zehn Ruhestätten saniert werden. Knapp zwei Millionen Euro zahlen das Land Berlin und der Bund bis Ende 2012 für die Sanierung von etwa der Hälfte der 2,7 Kilometer langen Einfriedungsmauer, an der es 440 Wandgrabmale gibt.
Doch das bewilligte Geld reicht längst nicht aus. "Die Arbeiten auf dem Friedhof sind ein niemals endender Kampf gegen den Verfall", sagt Lala Süsskind, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Etwa 40 Millionen Euro werden benötigt, um die Gräber vor weiterem Verfall zu schützen, hat die Gemeinde errechnet. So viel Geld gibt niemand. Und so geht die Zerstörung durch Wind und Wetter weiter, auch deshalb, weil es nach jüdischem Glauben auf Friedhöfen ein Ruherecht auf Ewigkeit gibt, Gräber werden also nicht neu belegt.
Seit vielen Jahren bemüht sich das Land Berlin, dass der Jüdische Friedhof auf die Weltkulturerbeliste der Unesco gelangt. Dass würde die Suche nach privaten Spenden erleichtern und die Chancen erhöhen, öffentliche Mittel zum Erhalt der Gräber einzuwerben, sagt Mathias Gille, Sprecher der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Doch eine Ernennung kann lange dauern. "Wenn eine Nominierung für das Welterbekomitee bis 2020 erfolgen sollte, wäre das für Berlin ein Spitzenergebnis", sagt Gille.
So lange wollen Denkmalschützer und Mitglieder der Jüdischen Gemeinde nicht warten. Sie bereiten eine dreitägige internationale Konferenz auf dem Gelände des Jüdischen Friedhofs vor. Anfang April wollen sich Friedhofsexperten, Denkmalschützer und Historiker verständigen, wie Jüdische Friedhöfe in Europa künftig enger zusammenarbeiten können. Eingeladen sind Experten aus Paris, Strasbourg, Manchester, Stockholm, Warschau, Wien und St.Petersburg.
Zum Programm gehört auch eine Führung über den Jüdischen Friedhof Weißensee, zu den sanierten Gräbern und zur sanierten Ruhestätte der Familie Nauenberg.
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"Weißensee'ner Begräbniß-Platz"
Der Jüdische Friedhof in Weißensee ist der größte seiner Art in Europa. Am 9.September 1880 wurde der "Weißensee'ner Begräbniß-Platz" nach Plänen des Architekten Hugo Licht eingeweiht. Die Kapazität der innerstädtischen Friedhöfe hatte nicht mehr ausgereicht.
Viele bekannte jüdische Berliner haben dort ihre letzte Ruhe gefunden: Der Gelehrte Hermann Cohen, der Komponist Louis Lewandowski, der Maler Lesser Ury, die Gründerin der Volksküchenbewegung Lina Morgenstern, der KaDeWe-Gründer Adolf Jandorf, Hertie-Gründer Hermann Tietz, der Verleger Samuel Fischer, der Gastronom Berthold Kempinski, der Schriftsteller Stefan Heym.
Ein eigenes Denkmal gibt es für die Mitglieder der jüdisch-kommunistischen Widerstandsgruppe um Herbert Baum und die jüdischen Opfer, die in Konzentrationslagern getötet wurden. Auch an die im Ersten Weltkrieg gefallenen jüdischen Soldaten wird durch ein Ehrenfeld erinnert.
Der Haupteingang zum Friedhof befindet sich am Ende der Herbert-Baum-Straße. Der Friedhof ist bis zum 31.März zu folgenden Zeiten geöffnet: Mo-Do 7.30-16 Uhr, Fr 7.30-14.30 Uhr, So 8-16 Uhr, Sa geschlossen. Männer müssen auf dem Friedhof eine Kopfbedeckung tragen. Es ist unüblich, Schnittblumen abzulegen, stattdessen werden Steine auf die Gräber gelegt.
Stefan Strauss
Artikel aus der Berliner Zeitung vom 4. Januar 2011
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