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Erinnerungstropfen
02.Mai 2011 | Beiträge – jüdisches berlin | Gemeinde, Kultur
Drei junge Israelis über ihren Beitrag zum diesjährigen Jom Haschoa
Von jeher erzählen die Menschen sich Geschichten. Geschichten, die dazu dienen, Ordnung in das Chaos zu bringen, das sich Leben nennt, und aus dieser Ordnung einen Sinn abzuleiten, um das, was uns Menschen widerfährt, besser verstehen zu können. Doch wie kann die Geschichte des Holocausts erzählt werden? Kann in dieses Chaos, dem Millionen von Menschen zum Opfer fielen, Ordnung gebracht, darin ein Sinn gefunden werden? Addie Reiss, ein israelischer Kameramann, der seit kurzem in Berlin lebt, sagt nein. Er packt damit in ein einziges Wort die Herausforderung, der er sich mit seiner Kollegin Eliana Schejter gegenüber sah, als sie gebeten wurden, einen Dokumentarfilm über das Zimmer 28 im Mädchenheim von Theresienstadt zu drehen. Denn einen Film zu drehen, bedeutet nichts anderes als eine Geschichte zu erzählen. Doch genau das wollte Reiss nicht. So entschieden er und Schejter, sich darauf zu konzentrieren, fünf 80-jährige Frauen den Raum beschreiben zu lassen, den sie einst in Theresienstadt zusammen mit 25 anderen Mädchen teilen mussten. Die Kamera geht nicht zurück an die Originalschauplätze, zeigt keine Wachtürme und keine Ausschnitte historischer Filmdokumente. Stattdessen sehen wir Frauen, die sich zu erinnern versuchen. Wir sehen, wie schwer diese Erinnerung fällt. Sehen, dass sie nur in Bruchstücken möglich ist. Es sind, so der Name des Films, »Memory Drops«. Und die Doppeldeutigkeit des Titels macht klar, dass diese Erinnerungen sowohl von den Frauen selbst als auch von der jüngeren Generation, die bald ohne Zeitzeugen auskommen muss, vergessen werden. Wir sehen Großaufnahmen einzelner Gegenstände, Illustrationen der Erinnerungsfetzen. Wir erfahren nichts über diese fünf Frauen, nichts über ihr Leben vor Theresienstadt oder danach. Am Ende des Films gibt es keine Kartharsis und keine Geschichte, die erklärt, wie der Holocaust möglich war.
Dieser zehnminütige Film bildet einen Programmpunkt in der diesjährigen Veranstaltung zum Jom Haschoa am
2. Mai im Gemeindehaus. Auch das musikalische Programm wird dieses Mal von Israelis gestaltet. Aufgeführt werden Kompositionen von Gilad Hochman, einem sehr jungen, schon mehrfach ausgezeichneten Komponisten, unter anderem 2007 mit dem höchsten israelischen Musikpreis, dem Israeli Prime Minister Award. Hochmans neu arrangierte Fassung von Ernest Blochs Stücks Nigun für Streichorchester und Solo-Violine wird die Veranstaltung einleiten, sein Stück Akeda für Solo-Bratsche schließt sie ab. Gil Raveh wird das Streichorchester dirigieren. Er stammt wie Hochman aus Israel. Beide haben an der Buchman-Mehta School of Music der Tel Aviv University studiert und leben jetzt in Berlin. Dass ihr Engagement in der Jüdischen Gemeinde gerade mit Jom Haschoa beginnt, finden sie passend. Raveh bestätigt: »Die Einbeziehung unserer künstlerischen Arbeit geschieht in jeder denkbaren Weise zum richtigen Zeitpunkt – an diesem speziellen Tag, zu dieser besonderen Veranstaltung. Wir können auch an jedem beliebigen anderen Tag spielen oder an einem anderen Ort. Aber der Fakt, dass wir hier und jetzt spielen und dass wir es sind, die genau diese Stücke spielen, ist doch besonders.« Hochman stimmt ihm ungeteilt zu. Auch er vertritt die Meinung, dass die gewählten Musikstücke und ihr beider Engagement ideal zu der Veranstaltung passen. Nigun wurde 1923 von Ernest Bloch für Violine und Klavier geschrieben, 1939 hat er es orchestriert – im Rückblick ein schicksalhaftes Jahr. 2004 wurde Hochman beauftragt, Nigun neu zu arrangieren. Nun wird das Stück in Berlin aufgeführt. Hochmans Stück Akeda ist natürlich nach der Schoa entstanden. »Juden können nicht mehr so leben wie vor der Schoa. Ich kann nicht leben ohne die Erfahrung, dass es Israel gibt«, so Hochman. Diese Erfahrung spiegelt sich auch in seiner Musik, in der er Themen der jüdischen Tradition und seiner israelischen Herkunft mit einer zeitgenössischen Sprache verbindet. Deutschland, speziell Berlin, scheint ihm für die Weiterentwicklung seiner Musik der richtige Ort. Ebenso empfindet es Raveh, der seit seinem siebten Lebensjahr für die Matthäus- Passion von J. S. Bach schwärmt.
Auch Addie Reiss fühlt sich von Berlin magisch angezogen, wenngleich ihm die Vergangenheit stets präsent ist. Schaut er sich die Videoaufnahmen von seinen Streifzügen durch die Hauptstadt an, sieht er vor allem alte Leute. »Ich bin besessen von alten Leuten. Ich bekomme auch immer noch Albträume, aber es werden weniger«, gibt er zu. Mit der Jüdischen Gemeinde hatte Reiss zum ersten Mal Kontakt im Januar auf dem von der Sozialabteilung initiierten Treffen zwischen Gemeinde und Israelis. Er sagt: »Ich wusste nichts von der Gemeinde und hätte mich in Israel auch niemals an eine ähnliche Institution gewandt oder sie gefragt, meinen Film zu zeigen. Doch auf dem Treffen fühlte ich ein gegenseitiges Interesse. Ich habe eine Form von Gemeinschaft hier in Berlin gesucht und es scheint, als ob auch die Gemeinde nach mir gesucht hat.«
Wenn Gil Raveh am 2. Mai mit Musikern des von ihm 2011 gegründeten Kammerorchesters »Horizonte« die Veranstaltung eröffnet, hofft er, jene Energie zu erzeugen, die das Publikum zu einem Teil der Aufführung werden lässt. Er ist überzeugt, dass man das Publikum braucht, um richtig gute Musik zu spielen. »Das Publikum ist ein Teil davon. Es ist nicht nur da um zuzuhören.« Seine Musik soll Spuren hinterlassen. Gil Raveh, Gilad Hochman, Addie Reiss – sie alle werden Spuren mit ihrer künstlerischen Arbeit hinterlassen: hier bei uns in der Gemeinde, in Berlin, in Israel und weit darüber hinaus.
Sandra Anusiewicz-Baer
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