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Erinnern und Befreien – in diesem Jahr ganz aktuell
04.April 2022 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage
Gedanken zu Pessach von Gemeinderabbinerin Gesa S. Ederberg
»In jeder Generation ist es unsere Aufgabe, uns selbst als diejenigen zu sehen, die aus Ägypten ausgezogen sind«. In diesem Jahr bekommt der alte Text eine ganz neue Relevanz, auch für uns hier in Berlin. Viele von uns haben Verwandte, Freunde, Bekannte, die aus der Ukraine geflohen sind, bei uns aufgenommen – Wir sehen Bilder von zerstörten Häusern, wir hören Erzählungen von Zerstörung und Tod…
In früheren Jahren haben wir Pessach in unseren Familien gefeiert, uns möglicherweise erinnert an die Auswanderung aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland, an das Neu-Ankommen, an die Schwierigkeiten. Doch jetzt hat das Ganze eine andere Dimension: Viele haben in aller Eile eine kleine Tasche gepackt, Mütter mit ihren Kindern haben die Väter – und auch die älteren Söhne – zurückgelassen, nur weg, in der Angst um das nackte Leben. Manche sind zum zweiten Mal geflohen, von der Krim oder aus Donezk vor einigen Jahren, und jetzt wiederum. Doch für die meisten war das Leben gut, Wohnung, Arbeit, eine gute Schulbildung für die Kinder.
Auch das jüdische Leben blühte, Gemeindehäuser wurden gebaut, jüdische Schulen und Synagogen der verschiedensten Strömungen. Und jetzt blieb alles zurück.
Nicht aus der Sklaverei, sondern aus Todesgefahr haben Menschen sich gerettet, und stehen jetzt vor der Frage, ob sie hier ein neues Leben aufbauen sollen oder doch wieder, wenn es möglich ist, zurückgehen. Somit ist dieses Pessach für viele ein Pessach »zwischendurch«, und die Botschaft der Befreiung ist fast mehr eine Hoffnung als eine Wirklichkeit, die man feiern kann.
Doch auf einer Ebene wird Pessach damit dieses Jahr viel realer, wirklicher als sonst. Schon im biblischen Text ist es ein Anliegen, dass aus Geschichte Gegenwart wird, dass vergangene Ereignisse in der Gegenwart verstanden und relevant werden. Nicht umsonst gehört es zum Ablauf des Seders, dass man in ein Stück Maror, scharfen Meerrettich, beißt, um an die Bitterkeit der Sklaverei in Ägypten zu erinnern: So schlimm war es damals, dass uns noch heute die Tränen in die Augen schiessen! Doch in diesem Jahr brauchen viele von uns kein Maror, um an die zu denken, die zurückgeblieben sind, an die, die in diesem sinnlosen Krieg gestorben sind oder verletzt worden sind, an alles das, was mit blinder Gewalt in Trümmer gelegt wurde.
Damit verknüpft sich unser Seder dieses Jahr vielleicht noch mehr als sonst mit den Erfahrungen der jüdischen Geschichte. Für die jüdischen Gemeinden im Mittelalter waren die Pessach-Feiern häufig überschattet: Zum ersten Mal war im Jahr 1144 in Norwich in England das Gerücht aufgekommen, die Juden hätten einen jungen Mann, William, geschlachtet, um sein Blut in den Mazzot zu verbacken. Immer wieder taucht diese Ritualmordlegende auf – und immer wieder beginnen Pogrome gegen die jüdischen Gemeinden in den Tagen um Ostern und Pessach. Noch 1903 wird durch Ritualmordanschuldigungen ein Pogrom in Kishinev ausgelöst, mit zig Toten und Hunderten von Verletzten.
Mitten in der Verfolgung finden wir uns zusammen, um an die Befreiung aus Ägypten zu erinnern, und so die eigene Hoffnung auf Befreiung aufrecht zu erhalten.
Aus dem Jahr 1944, aus Bergen-Belsen, ist ein Gebet überliefert: »Gott, du weißt, dass wir Pessach feiern wollen, wie es sich gehört – Mazza zu essen und kein Gesäuertes. Doch wir befinden uns in Lebensgefahr und haben keine Wahl. Siehe wir erfüllen dein Gebot`Ihr sollt durch die Gebote leben und nicht sterben.` Wir beten zu dir, du mögest uns am Leben erhalten und uns erretten, sodass wir bald wieder ein Leben führen können in Erfüllung deines Willens.«
Und noch ein anderer Aspekt von Pessach wird dieses Jahr besonders spürbar: In der Haggada sagen wir: »Kol dichfin… – Alle, die hungrig sind, sind eingeladen, alle, die es brauchen, setzen sich mit an den Tisch«.
Die Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, aber auch innerhalb der Gesellschaft insgesamt, ist überwältigend in diesen Wochen. Menschen haben Raum geschaffen in ihren Wohnungen, am Schabbattisch und jetzt auch am Sedertisch.
Befreiung muss immer wieder neu verstanden werden. In jedem Jahr und an jedem Ort bedeutet Sklaverei etwas anderes – und Freiheit etwas anderes. Nur wenn wir aufmerksam sind und die Fragen der Zeit ernst nehmen, wissen wir, was unsere Befreiung ist und wo wir Grund zum Feiern haben.
jüdisches berlin
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