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Empfangen und weiterreichen – Die Gabe der Tora am Sinai
03.Mai 2018 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage
Gedanken von Rabbinerin Gesa Ederberg zu Schawuot
Vor zwei Jahren habe ich im Religionsunterricht am Jüdischen Gymnasium die Schüler und Schülerinnen gefragt: »Wenn ihr bei der Gabe der Tora am Berg Sinai dabei gewesen wärt – und unsere Tradition sagt ja, dass wir alle dort standen – dann hättet ihr natürlich auch eure Handys dabei gehabt. Was hättet ihr fotografiert, auf WhatsApp geschrieben, und so weiter?«
Die Ergebnisse (ganz traditionell auf Papier gemalt) und mehr noch das anschließende Gespräch waren superspannend, und dabei wurde deutlich, dass diese Vorstellung eben kein simpler Lehrer-Trick war, sondern ins Zentrum der Frage stösst: Was bedeutet das, was damals geschah, für uns heute?
Der Rabbiner und Religionsphilosoph Abraham Jehoschua Heschel schreibt: »Offenbarung ist ein Ereignis im Bereich des Unsagbaren, deshalb kann man ihr eigentliches Wesen nicht in Worte fassen… Die Worte, mit denen die Propheten versuchten, ihre Erlebnisse wiederzugeben, waren nicht Fotographien, sondern Gemälde; nicht Beschreibungen, sondern Lieder.«
Ein Midrasch, ein rabbinischer Text aus dem achten Jahrhundert, beschreibt das Ereignis am Berg Sinai so: »Als Gott uns die Tora gab, zwitscherte kein Vogel, kein Flügelschlag war zu hören, kein Vieh gab Laut – die Engel schlugen nicht mit den Flügeln und das Meer rauschte nicht. Kein Geschöpf ließ seine Stimme hören – die ganze Welt hielt ihren Atem an. Dann war die Stimme zu hören: ‚Ich bin der Ewige, euer Gott’. Als Gott am Berg Sinai sprach, wurde die ganze Welt still, sodass alle Geschöpfe verstehen konnten, dass Gott einzig ist.«
Diese Beschreibung ist anschaulich, fast sieht man das Geschehen vor sich. Doch schon im 11. Jahrhundert schreibt der Philosoph Maimonides: »Es ist sehr schwer, eine wirkliche Vorstellung der Ereignisse am Sinai zu gewinnen, denn nie hat sich etwas Vergleichbares ereignet, noch wird es sich je wieder ereignen.«
In einem anderen Midrasch heißt es: »Alle, die ihr heute am Berg Sinai steht… – das bezieht sich nicht nur auf die Kinder Israels jener Generation, sondern auch alle zukünftigen Generationen. So wie die Tora aus 600 000 Buchstaben geschrieben ist, so hat sie sich in 600 000 einzelne Lehren zerteilt – jeder und jede, die dort standen, haben die Tora in einer einzigartigen Weise »empfangen« und begriffen. Und nur die Summe dieser Vielfalt ergibt wiederum das Ganze der Tora.
Auf den Bildern, die die Schüler und Schülerinnen gemalt haben, war ganz unterschiedliches zu sehen. Einer meinte: »Wenn ich versuche, Gott zu fotografieren, dann explodiert das Handy, weil da so viel Energie ist, dass die menschliche Technik sie nicht aushalten kann.« Und eine andere: »Da es verboten ist, sich von Gott ein Bild zu machen, wird Gott dein Handy sowieso explodieren lassen, wenn du es versuchst.«
Und wieder jemand malte einfach nur einen Berg, mit Bäumen und Tieren, weil sie der Überzeugung war, dass es vielleicht möglich sei, dass Menschen etwas gesehen haben, aber völlig klar, dass sich das nicht auf einem Foto festhalten ließe.
Eines der WhatsApp-Gespräche sagte einfach nur: »Wow, ich wünsche, du wärst auch dabei!«
Und genau darum geht es: Dabei zu sein, sich diese Erfahrung zu eigen zu machen.
Zentral für das Judentum ist nicht die Frage, was damals wirklich geschah, sondern die Wirkung dieses Ereignisses. So heißt es in Pirkei Awot, einem rabbinischen Text aus dem 4. Jahrhundert: »Moses empfing die Tora am Sinai und übergab sie Joschua, Joschua übergab sie den Ältesten, die Ältesten übergaben sie den Propheten, und die Propheten den Mitgliedern der Großen Versammlung.«
Dieses Empfangen und Weitergeben der Tradition, »lilmod u-lelamed«, das Lernen und Lehren, ist das Kernstück jüdischen religiösen Lebens bis heute. Dass die Tradition im Weitergeben aktualisiert wird, dass auf neue Fragen neue Antworten gefunden werden müssen, und dass neue Kontexte Veränderungen nötig machen, war schon den Talmudgelehrten bewusst. Deshalb gehört zur Tora nicht nur die schriftliche, sondern auch die mündliche Tora – ja sogar alles, was dereinst ein Schüler mit seinem Lehrer diskutieren wird, ist schon in der Tora, die Moses am Sinai empfangen hat, enthalten.
Deshalb ist es die Aufgabe jedes Einzelnen, die Tora neu zu lernen, und in der Auseinandersetzung mit der Tradition die eigene Stimme zu finden.
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