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03.September 2012 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage

Gedanken zum Neuen Jahr

Im Talmud gibt es Meinungsverschiedenheiten darüber, ob die Welt im Monat Nissan oder im Monat Tischrej erschaffen worden sei. Rabbi Elieser sagt: »Im Tischri ist die Welt erschaffen worden, […] im Nissan wurden unsere Väter erlöst und im Tischri werden sie einst erlöst werden. Rabbi Jehoschua sagt: »Im Nissan ist die Welt erschaffen worden, […] im Nissan wurden unsere Väter erlöst und im Nissan werden sie einst erlöst werden« (Massechet Rosch Haschana 10b-11a).

Die Halacha geht nach der Auffassung Rabbi Eliesers, daher feiern wir Rosch Haschana, die Schöpfung der Welt, im Monat Tischri. Auch der zweite Zeitpunkt, der Nissan, ist ein »Geburtstag«, der Geburtstag des jüdischen Volkes: der Auszug aus Ägypten und der Empfang der Tora am Berg Sinai. Der jüdische Kalender basiert auf diesen beiden Daten. Die Erschaffung der Welt liegt in diesem Jahr 5773 Jahre zurück, die Geburt des Volkes Israel 3325 Jahre. Beide Ereignisse bestimmen die jüdische Geschichte und gehören zum Fundament des jüdischen Glaubens, das der Religionsphilosoph Josef Albo (ca. 1380–1440 n.d.Z.) in drei Axiomen definiert: Glaube an die Existenz des Schöpfers, Glaube an die Tora vom Himmel und Glaube an das Prinzip von Lohn und Strafe.

Foto: Benyamin Reich

Foto: Benyamin Reich

Wir glauben an die Schöpfung der Welt und dass der Schöpfer einen Bund mit uns geschlossen und uns seine Tora gegeben hat. Die Welt hat eine Bestimmung. Alles auf ihr wurde um des Menschen und um seiner Bestimmung willen erschaffen. Daher steht der Mensch am Ende des Schöpfungswerkes, nachdem schon alles für ihn vorbereitet war. Wir feiern die Schöpfung der Welt und ihre Erneuerung jede Woche, indem wir den Schabbat halten, wie geschrieben steht: »Er [der Schabbat] ist ein Zeichen zwischen mir und den Kindern Israels auf ewig, denn in sechs Tagen machte der Ewige Himmel und Erde und am siebten Tag ruhte er und erquickte sich« (Exodus 31:17). Rosch Haschana, der Tag, an dem das alte Jahr endet und ein neues beginnt, ist die Zeit, in der wir innehalten und uns einer Selbstprüfung unterziehen. Wie war das vergangene Jahr, was ist mir gelungen und was nicht? Wo hatte ich Erfolg und wo habe ich mich geirrt? Bin ich auf dem richtigen Weg oder muss ich meine Richtung ändern? Wer bin ich, was möchte ich erreichen, was ist meine Bestimmung?

An Rosch Haschana blasen wir das Schofarhorn. Dadurch rufen wir die Herrschaft G‘ttes über die Welt aus. Wir blasen das Schofar zu Ehren des Königs aller Könige. Auch soll der Klang des Schofar uns aufrütteln und aufwecken. Er soll unsere Herzen zum Nachdenken anregen, was wir an unserem Benehmen verbessern können, sowohl unseren Nächsten als auch G‘tt gegenüber. Das Blasen des Schofar ist zudem eine Art Gebet, ein Gebet ohne Worte, ein wortloser Schrei, der aus der Tiefe des Herzens kommt, wie das Weinen eines Kindes, das um die Hilfe seiner Mutter bittet. Der Klang des Schofar symbolisiert ferner Einheit. Alle schweigen wir und hören gemeinsam zu. Alle identifizieren wir uns mit dem Klang des Schofar, ohne dass es eine Differenz zwischen uns gäbe, da es weder Wort noch Gegenwort hat, die diese Einheit stören könnten. In völligem Einvernehmen krönen wir durch das Blasen des Schofar den Ewigen als unseren Schöpfer und König. Mit dieser Tat bitten wir ihn, eine neue Seite aufzuschlagen, unsere Verfehlungen des letzten Jahres zu verzeihen, sie zu löschen und uns die Chance zur Besserung zu geben. Rosch Haschana ist der Gerichtstag. An diesem Tag wird unser Schicksal für das nächste Jahr bestimmt. G’tt, der König der Welt, entscheidet, was aus jedem einzelnen von uns werden wird. Wir haben die Macht, diese Entscheidung positiv zu beeinflussen, und das tun wir durch das Blasen des Schofar und durch unsere Gebete. Auch die guten Wünsche, die wir uns gegenseitig sagen, haben eine Wirkung auf den Verlauf des neuen Jahres. So wünschen wir uns ein gutes, süßes und gesundes Jahr und pflegen unsere Segenssprüche durch symbolische Handlungen zu begleiten. Unsere Weisen sagen, dass das Symbol eine Wirkung hat. Wir leben in einer physischen Welt und nicht in einer geistigen. Alles Geistige, wie Gebete und Segenssprüche, muss an eine Tat gebunden werden. So tauchen wir Apfel in Honig, um unsere Bitte um ein süßes Jahr mit einer Handlung zu verbinden. Auch essen wir verschiedene Speisen, die symbolisch für Erfolg, das Ende unsere Sorgen und das Aufhören jeglicher Anfeindung stehen. Wir essen Granatapfel, der reich an Kernen ist und sagen, dass unsere Verdienste zahlreich sein mögen wie diese. Rosch Haschana lehrt uns, dass wir als Menschen, obwohl G’tt die Welt regiert, Einfluss auf unser Geschick haben. Der Ewige hat g’ttliche Kraft und Macht in den Menschen gelegt. Mit unserem Denken, Sprechen und unseren Taten können wir unser Leben bestimmen. Wir können uns aktiv daran beteiligen, eine neue Seite aufzuschlagen. Lasst uns diese Chance nutzen und treu auf dem Weg unserer wunderbaren Tora und der Überlieferung unserer Väter fortfahren.

Möge uns der Ewige ein Jahr des Friedens auf der Welt schenken und dass wir ohne jegliche Einschränkungen als Juden leben und unsere Tradition an unsere Kinder weitergeben können. Wir wünschen allen Gemeindemitgliedern, unseren Brüdern und Schwestern in diesem Land, in Erez Jisrael und auf der ganzen Welt ein gesundes Jahr, viel Naches und Simche! Ketiwa we chatima towa! Ein gutes Jahr für alle Menschen!

Rabbiner Jitshak Ehrenberg

und Nechama Ehrenberg