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Eine ewige Reise
04.April 2011 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage
Gedanken zu Pessach von Rabbiner Boris Ronis
Ein Sprichwort besagt, dass auch eine Reise von tausend Meilen immer mit dem ersten Schritt beginnt. Das Sprichwort will natürlich über den harten Weg eines solchen Unterfangens aufklären und auf die Mühen verweisen, die solch eine Reise mit sich bringt. Aber es will auch auf die Einfachheit und die Zwangsläufigkeit ihres Beginns hinweisen: nämlich auf den ersten Schritt – denn mit ihm beginnt eine jede Reise.
Stellen wir uns diesen ersten Schritt vor mehr als 3000 Jahren vor – den Auszug unseres Volkes aus Ägypten. Nun führen wir diesen einfachen Gedanken weiter – wie mag eine Reise aussehen, die nicht »nur« tausende Meilen lang ist, sondern über eine Zeit von 3000 Jahren geht? Eine Reise, die kein Ende zu finden scheint. Im Grunde genommen könnte man so das Judentum beschreiben, als fortgehende Reise, die nie ein Ende findet.
Unser jüdisches Volk hat viel auf diesem Weg gesehen und erlebt. Angefangen mit der starken Hand Gottes, der uns sicher und mit unendlicher Macht aus dem Land der Sklaverei befreit hat, über die Besiedlung des Landes Israel und die Vertreibung aus demselben, weiter über die Neuanfänge in aller Herren Länder dieser Welt und die dazugehörigen Schwierigkeiten bis hin zu den dunklen Kapiteln der Inquisition und der Schoa.
Es ist eine beschwerliche Reise, die unter anderem auch dazu dient, uns an ihre Konstellation zu erinnern, aber auch an unseren Weg und die Werte beziehungsweise die Erfahrungen, die wir gemacht haben.
Der Auszug aus Ägypten war der Beginn einer »Tausend-Meilen-Reise«, die bis heute andauert. Wir Juden reisen unentwegt weiter und das Ziel, das wir ansteuern, ist nichts anderes als das Leben, mit Gott, mit uns und mit den anderen Völkern dieser Welt. Somit findet unsere Reise auch kein Ende, denn wenn das Leben als Ziel gedacht ist, so ist das ein Weg, der von Generation zu Generation, wie bei einem endlosen Staffellauf immer wieder eröffnet wird.
Doch die Frage, die sich uns dabei stellt, ist immer wieder die Gleiche: Was haben wir bis jetzt, auf dem gesamten gemeinsamen Abschnitt unserer Reise erlebt und gelernt? Wohin hat er uns gebracht und wohin gehen wir? Reisen bildet, sagt der Volksmund, und es ist immer wichtig, das Erlernte auch anwenden und umsetzen zu können. Also stellt sich die einfache Frage: Wo kamen wir her und wohin möchten wir gehen?
Eine Antwort lautet: Wir kamen einst aus Ägypten und waren dort Sklaven des Pharao – und dorthin wollen wir nicht wieder zurück! Wir wissen somit sicher, dass wir nicht noch einmal Sklaven eines Pharaos, eines Diktators oder Herrschers sein möchten. Und wir wissen, dass wir es mit Gottes Hilfe geschafft haben, dieser Art der Barbarei zu entkommen. Doch wie entgeht man auch zukünftig solchen Unterdrückungssystemen, wie lässt sich die Wiederholung eines solchen Weges vermeiden?
Leider gibt es gegen Diktatoren keinen hundertprozentigen Schutz, aber wir können uns sensibilisieren, indem wir den Weg, den wir bereits zurückgelegt haben, Revue passieren lassen. Soll heißen: wir wollen aus unserem Weg lernen und daraus Schlüsse ziehen. Dazu gehört das Studium unserer Schriften, insbesondere der Tora und des Talmuds. Was aber ebenfalls wichtig und unerlässlich ist, das ist die Einbeziehung unserer Kinder in diese Lehren. Wenn wir sie nicht ordnungsgemäß unterweisen, können wir von unseren Kindern nicht erwarten, dass sie die Fehler, die wir in der Vergangenheit gemacht haben, nicht begehen.
Dabei kann solch eine Unterweisung ganz einfach sein. Zu Pessach tun wir dies, indem wir zusammen die Haggada lesen und so unsere Kinder einbeziehen und deren Aufmerksamkeit erwecken. Wobei die Mizwa, unsere Pflicht (aber auch die Kunst) darin besteht, es so zu erzählen, dass es auch angenommen werden kann. Unsere Weisen erkannten, dass es nötig ist, die Haggada in der Sprache zu verwenden, in der auch sonst in der Umgebung gesprochen wird. Denn wichtig ist das Verständnis der Geschichte und ihrer Werte. Und der Wert dieser Geschichte ist so klar wie wesentlich: es geht um das Thema Freiheit.
Es ist unsere Emanzipation, unsere Unabhängigkeit, die wir an jenen Tagen vor Tausenden von Jahren erhalten haben. Dort, in jenem fernen Land, erlangten wir unsere Freiheit. Heute schauen wir uns um und es scheint uns, dass diese Freiheit ein alltägliches Gut ist. Wir vergessen, dass viele von uns auch heute noch aus Ländern kommen, wo Freiheit nicht selbstverständlich ist. Wir vergessen, dass wir diese Freiheit, die wir hier haben, verteidigen müssen.
Vor vielen tausend Jahren wurde unser Volk aus der ägyptischen Knechtschaft befreit, damit wir heute freie Männer, Frauen und Kinder sein können. Für unsere Vorfahren war Freiheit ein neues Gut. Waren sie doch Jahrhunderte Sklaven des Pharao und mussten hart für ihn arbeiten. Dann machte Gott uns ein besonderes Geschenk – er schenkte uns diese Freiheit. Doch was bedeutet Freiheit? Alles zu tun und zu lassen, was man will oder zu fragen und zu sagen, was man möchte? Dorthin zu gehen oder zu reisen, wohin man will, global und territorial unabhängig zu sein?
Zu Pessach feiern wir ein historisches Ereignis – den Auszug des jüdischen Volkes aus Ägypten. Unsere Weisen mahnen jedoch, dass jede Generation, an jedem Tag so leben soll, als wären wir gerade erst aus Ägypten befreit worden. Jeder Tag und jede Umgebung enthält nämlich ein »Äquivalent Ägyptens«: die Macht, die Freiheit eines Juden zu beschränken. Doch die wohl größte Bedrohung kommt von innen, von uns selbst. Es ist die Meinung und die Illusion, dass uns diese Freiheit für immer und ewig gegeben wurde und wir sie selbstverständlich besitzen können, ohne dafür zu kämpfen. Dem ist aber leider nicht so. Gott gab uns die Freiheit, verlangt aber im Gegenzug, dass wir sie uns auch tagtäglich verdienen. Und deshalb feiern wir Pessach. Denn Pessach ist ein andauernder Vorgang der Autoemanzipation. Während des Festes führt jeder Jude, der frei sein will, einen inneren Kampf mit sich selbst. Das ist einer der Gründe, weshalb jede Generation täglich an unsere Erfahrungen in Ägypten denken soll. Wir selbst müssen jeden Tag »Ägypten verlassen«, müssen »die ewige Reise« antreten, denn erst dadurch erreichen wir die volle Unabhängigkeit und werden somit zu freien Männer, Frauen und, besonders wichtig, zu freien Kindern.
Pessach Sameach!
_Boris Ronis (35), in Czernowitz geboren, in Berlin aufgewachsen, hat an der Universität Potsdam und am Abraham Geiger Kolleg studiert und wurde im November 2010 zum Rabbiner ordiniert (siehe jb 11/2010)
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