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Ein Satz wie «Siehste, das habe ich doch schon immer gesagt« ist verboten

02.Oktober 2008 | Beiträge – jüdisches berlin | Jugend

Junge Gemeindemitglieder wollen in einem Debattierklub beim »Jewbating« ihre Rhetorik und Argumentationsfähigkeit schärfen und sich vor allem für politische Diskussionen fit machen. Von Judith Kessler

»Ich beantrage, dass dieses Haus die Hamas als legitimen Verhandlungspartner akzeptiert«, endet der Regierungschef – die Kontrahenten auf der Oppositionsbank fixierend – den Vortrag. Sein Auditorium sitzt allerdings nicht in der Jerusalemer Knesset, sondern im Berliner Centrum Judaicum und besteht aus überwiegend jungen Leuten, die sich hier zum ersten »Jewbating« zusammen gefunden haben.
Die Idee zu einem jüdischen Debattierklub stammt von Renat Fischbach, der eine Plattform vermisst hat, auf der junge Leute, die dem Jugendzentrumsalter entwachsen sind, sich intellektuell ausdrücken, eine Diskussionskultur und bessere Argumente als die Gegenseite entwickeln können. »Ich habe bei vielen gemerkt, dass sie vorgefertigte Meinungen haben, irgendwelche Autoritäten nachäffen oder die Texte, die sie verteufeln, gar nicht gelesen haben«.

Die Debattierdebütanten: (v.l.n.r.) David Klawonn, Jasmin Bruck, Willy Kramer, (Renat), Gil Dörr, Josef Girshovich, Joel Prajs © Yael Goldberg

Die Debattierdebütanten: (v.l.n.r.) David Klawonn, Jasmin Bruck, Willy Kramer, (Renat), Gil Dörr, Josef Girshovich, Joel Prajs © Yael Goldberg

Er wollte »eine intellektuelle Spielwiese«, sagt der Student, und die »Jungs – der Leo und der Willy und so weiter – die waren auch bereit und da dachte ich mir, ich fang einfach mal an.«
Das klingt reichlich naiv, hat aber funktioniert: Fischbach besuchte die Berliner Debating-Union der Humboldt-Uni und verschiedene Veranstaltungen »von Chabad bis Lauder«, um »mir anzusehen, wie so was läuft«, dann sprach er Lala Süsskind an,  die ihm Unterstützung zusagte und nervte sie solange, bis sie auch noch die Telefonnummer von Michel Friedman rausrückte. Und der habe weder aufgelegt noch gefragt »Wer sind Sie denn?«, sondern sofort zugesagt: »Ich bin dabei! Aber nicht am 10., das ist mein Hochzeitstag, die Debatte zu Hause möchte ich lieber nicht haben«. Also änderte Renat Fischbach den Termin und hatte mit »Oberdebattierer« Friedman den idealen Schirmherren für sein »Jewbating« gewonnen.
Dass es dann richtig voll wurde im Seminarraum lag sicher mit an der Anwesenheit des begnadeten Rhetorikers, der nach seiner Einführung auch nicht gleich wieder verschwand (wie erwartet), sondern die gesamte »Knesset-Debatte« verfolgte und manchmal auch kurz korrigierend eingriff (zum Beispiel um Fischbachs clownesken Redefluss zu stoppen).
Das »Jewbating« orientiert sich an den Spielregeln des »British Parliamentary Style«, nach denen zwei Parteien, eine Regierungs- und eine Oppositionsfraktion, mit gegensätzlichen Positionen ihre jeweiligen Standpunkte mit überzeugenden Argumenten vertreten und die der Gegenseiten entkräften sollen. Die Teilnehmer, je vier Vertreter für beide Parteien, werden ausgelost – mit 50-prozentiger Sicherheit erwischt man also eine Meinung, die einem im »wahren Leben« fremd ist, muss also völlig umdenken. Dann wird die Streitfrage bekanntgegeben und die Diskutanten haben 15 Minuten Zeit, ihre Statements vorzubereiten. Die Reden selbst dürfen nicht länger als sieben Minuten dauern und werden im Wechsel zwischen beiden Parteien gehalten, beginnend mit dem »Premierminister«, der aus dem strittigen Thema einen konkreten Antrag formuliert, und dem »Oppositionsführer«, der dagegen argumentiert. Zwischenfragen der gegnerischen Seite und Meinungsäußerungen aus dem Publikum sind erlaubt (vielleicht zukünftig der alternative Spielplatz für Leute, die sonst üblicherweise die Repräsentantenversammlung stören?). Am Ende bewertet eine Jury die Leistungen der Redner und Parteien.
In den USA und Großbritannien haben Debattierklubs an Universitäten eine lange Tradition; es gibt sogar internationale Meisterschaften und die Debatten sind heute so beliebt, dass sich 4000 Menschen irgendwo in England freiwillig in eine Halle quetschen, um die besten Diskutanten des Landes zu hören.
Hintergrund ist natürlich der Spaß an der Kontroverse, am Denken, am Ausloten von Sprache und deren Möglichkeiten zum Verstehen oder Mißverstehen. Michel Friedman, der die Anwesenden dafür beglückwünschte, dass sie sich für das »Hirnjogging« begeisterten, sagte, es gebe zwei Wege, entweder Erwachsene würden ihren Kinder beibringen, »die Klappe zu halten« und ein »opportunistisches, schleimscheißerisches Leben zu führen« oder sie würden sie den »Widerspruch« lehren. Widerspruch zuerst zu oder mit sich selbst, »sich selbst anzweifeln, sich selbst überraschen« – das sei die positive Herausforderung, sagte der Publizist und verriet kein großes Geheimnis, als er sich als »leidenschaftlicher Anhänger des Streits« outete, den er mit »Lustgewinn« betreibe, was mit der Sehnsucht zu tun habe, »sich in seiner eigenen geistigen Schärfe verbessern« zu wollen. Dies erreiche man aber nicht, wenn man nur mit Menschen spreche, die gleicher Meinung sind. Die Kunst der Debatte bestehe darin, dem oder der anderen zuzuhören und daraus eine kluge Replik zu entwickeln. Die Voraussetzung dazu ist Wissen; als nächstes müsse man verstehen, was man weiß und dann auch noch in der Lage sein, dies »rüber zubringen«.
Es reicht nicht für Israel zu sein oder Palästinenser Terroristen zu nennen. »Wir brauchen keinen Applaus von Leuten, die eh unserer Meinung sind. Das ist billig.«, so der Publizist weiter, und »ein Satz wie ›Siehste, das hab ich doch schon immer gesagt.‹ ist verboten«. Erst, wenn die andere Seite überzeugt oder wenigstens irritiert sei, wenn Themen wie Antisemitismus auch für Nichtjuden nachvollziehbar sind, erst wenn sie verstehen würden, dass auch sie betroffen sind, dann habe man richtig argumentiert…
Der Vollständigkeit halber: Überzeugen konnte an diesem ersten Abend noch keine Partei oder Person die andere (und ähnlich wie in der großen Politik fand sich neben sieben Männern nur eine Frau zum Debattieren, die anderen ließen sich lieber mit Mischu F. fotografieren).  Eines wurde jedoch klar – es gibt noch viel, viel Stoff für neue Debatten und auf jeden Fall war sowohl das Publikum als auch der Schirmherr begeistert vom Mut der Teilnehmer, die völlig unvorbereitet ins »tiefe Wasser« gesprungen waren und beim nächsten »Jewbating« ganz sicher Coach Friedman im Ohr haben werden, der ihnen wieder zuruft: »Denken Sie Ihre Gedanken zu Ende! Springen Sie über Ihren eigenen Schatten! Seien Sie radikal!«.

Informationen:
Für alle Debattierfreunde – nächstes Jewbating: 20.10.: 19 Uhr, Centrum Judaicum, Oranienburger Straße 29, Seminarraum