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Ein Junge aus dem Wedding
01.November 2010 | Beiträge – jüdisches berlin | Kultur, Menschen
Der jüdische Deutsch-Iraner Arye Sharuz Shalicar (33) hat eine bedrückende Autobiographie über seine Jugend in Berlin geschrieben
Für Sharuz ist die Welt in Ordnung. Bis er 13 wird und seine Familie aus Spandau nach Wedding zieht. Hier ticken die Uhren anders. Hier wird man nicht zuerst nach dem Namen gefragt, sondern danach, ob man auch Muslim sei. Der Sohn säkularer iranischer Juden erinnert sich heute, 20 Jahre später, in seiner eben erschienenen Autobiografie, dass er zunächst immer nur geantwortet habe, dass ihn Religion nicht interessiere. Auch, dass er Berliner sei und es ihm »scheißegal« ist, »was im Nahen Osten abläuft«. Sharuz, »schwarzhaarig, braunäugig und dunkelhäutig«, spricht mit seine Eltern Parsi und ist damit für alle automatisch Muslim. Seine neuen Kumpels sind Türken, Palästinenser, Libanesen, Bosnier, Perser, Kurden, Pakistani und er lernt schnell auch ein paar Brocken Türkisch und Arabisch. Mit dem Begriff »Jude« weiß er ohnehin nicht viel anzufangen. Sharuz isst am liebsten Schweinesteaks und Currywurst; statt in Anne-Frank-Ausstellungen »abzuhängen« spielt er Fußball, und das Wichtigste am Unterricht sind für ihn und seine Freunde »allein die Pausen«.
Als Sharuz von seiner Großmutter in Israel einen goldenen Davidstern geschenkt bekommt, findet er ihn »hübsch«, und das war‘s auch schon. Seine Eltern wollen es ihm leichter machen, sie feiern keine jüdischen Feste, meiden das Thema Judentum und bitten ihn auch, den Magen David unter dem Hemd zu tragen. Doch dann (weil im Wedding alle mit angeberdicken Goldketten und allerlei Symbolen um den Hals herumlaufen) hängt auch er sich seinen Stern um. Dieser Tag ändert sein Leben, schlagartig.
Aus den gerade gewonnenen Freunden werden in einem einzigen Moment erbitterte Feinde. Sharuz’ Leben wird zum Spießrutenlauf. Er wird beschimpft, bespuckt, geschlagen – von Leuten, die er nie zuvor gesehen hat und anfangs, ohne auch nur ansatzweise zu verstehen, warum. Die Judenhasser sind es, die ihn zum Juden machen. Shalicar beschreibt in vielen Episoden, wie sein Outing die Kumpels zunächst verwirrt (»Es gibt keine guten Juden und du bist mein Freund. Du bist niemals Jude.«) und sie dann über ihn herfallen, ihn demütigen, erniedrigen, quälen. »Besonders humorvolle Weddinger«, schreibt er, »zischten nur, um das einströmende Gas nachzuahmen, wenn ich vorbeilief.« Einmal wird er fast totgetreten. Er hat Angst und meidet fortan bestimmte Straßen und Plätze, geht mit gesenktem Blick, um nicht versehentlich einem in die Augen zu sehen, der das als Provokation verstehen konnte. Die Jungs liefen, beschreibt Sharuz, »mit zwei bis vier Pitbulls an der Leine. Sie warteten darauf, schief angeguckt zu werden, damit sie ihre Hunde von der Leine lassen konnten«. Überhaupt wird im Kiez demoliert, geprügelt, geschossen, gestochen, geklaut, gedealt, was das Zeug hält. Rivalisierende Banden verteidigen ihre Reviere – Leopoldplatz gegen Nauener Platz, Streetfighters gegen Black Panthers. (Immer wieder muss man sich beim Lesen vergegenwärtigen, dass das Buch nicht in der Bronx spielt oder in Damaskus, sondern ein Tatsachenbericht aus dem heutigen Berlin ist, fünf oder zehn Kilometer Luftlinie von einem selbst entfernt.)
Sharuz lernt zwei, drei Muslime kennen, die ihn nicht umbringen wollen, von denen er etwas über den Islam und über die Konflikte zwischen Irakern, Syrern, Saudis und Palästinensern erfährt, die er zuvor für eine einzige »arabische Masse« gehalten hat, die lediglich Türken nicht ausstehen können (und umgekehrt). Einer dieser Jungs, ein Kurde, ist eine große Nummer in einem der Clans. Unter seinem Schutz schließt er sich einer berüchtigten Jugendgang an, den »Kolonie Boys«. Sharuz will dazugehören und »unbedingt von allen akzeptiert werden«. Also macht er mit, ganz vorn. Er macht sich einen Namen als Grafitti-Sprayer, und jetzt tritt und sticht er auch selbst zu, holt sich »Respekt«. Der einzige Nichttürke in einer der größten Türkengangs Deutschlands klaut, nimmt an jeder Keilerei teil und geht kaum noch zur Schule.
»Eigentlich«, resümiert Shalicar, »war ich ja akzeptiert als einziger Jude unter lauter Muslimen. Doch es fiel mir zunehmend schwer, stillschweigend den stetigen Judenhass zu ertragen…! Jeder benutzte das Wort Jude als Schimpfwort… ständig wurde Israel verflucht!« Nicht irgendein naher Berliner Neonazi-Spuk bestimmt seinen Alltag, sondern der ferne Nahost-Konflikt.
Allmählich interessiert der junge Deutsch-Iraner sich auch für die eigene fremde Geschichte. Seine Eltern erzählen ihm über ihr Leben im Ghetto von Babol und er hört Geschichten, die ihn an das erinnern, was er jetzt täglich erlebt. In den 1950er waren Sharuz` Großeltern, obwohl ihre Likörfabrik gut ging, daher nach Israel gegangen, weil es ihre Kinder sicherer haben sollten. Hier allerdings fühlten sich die Sephardim wieder als Menschen zweiter Klasse und kehrten zurück in den Iran: »Statt sich Beleidigungen vonseiten jüdischer Brüder gefallen lassen zu müssen, ließ man sich jetzt wieder von seinen persischen Brüdern beleidigen«. Doch dann bekommt der Vater einen Studienplatz in Göttingen, wo Sharuz und seine Geschwister geboren werden.
Die Verwandten im Iran indes litten weiter. Eine Tante trat mit ihrem Mann zum Islam über, um das Leben für die Familie erträglicher zu machen; dafür musste sie fortan im Tschador herumlaufen und den Kontakt zur Familie in Israel abrechen. »Juden wurden als die dreckigsten Lebewesen auf der Erde betrachtet«, erklärte man ihm die iranische Redeart »Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude«. Sie durften beispielsweise keine städtischen Wassereimer und auf dem Markt keine Lebensmittel anfassen, weil die Iraner glaubten, die Juden würden sie mit der jüdischen Krankheit anstecken…
Aber auch in Berlin erlebt Sharuz, wie nicht nur er selbst, sondern auch seine Kumpels in einem »Aquarium« leben, in einer Parallelwelt, die mit der Umgebungsgesellschaft kaum etwas zu tun hat, wie sie sich selbst von dieser Umwelt fern halten und wie sie ferngehalten werden. Er bemerkt, wie sich die Polizei zurückhält, wenn »Weddinger Jugendliche sich gegenseitig abschlachten«, und er lässt sich hineinziehen in den Krieg zwischen Kreuzberger und Weddinger Kurden- und Araber-Gangs. Er sitzt kurze Zeit in einer Jugendstrafanstalt ein, bekommt dann die Kurve, schafft das Abitur, geht zur Bundeswehr (ausgerechnet dort begegnen ihm keinerlei Vorurteile) und schreibt sich an der FU für Judaistik ein.
Ein Kommilitone schleppt ihn zur Jüdischen Gemeinde, wo er aber nicht mit den »deutschen Juden« zurechtkommt und schon gar nicht mit den »Russen« und auf dem Weg zur Bibliothek am Eingang jedes Mal »wie der Staatsfeind Nr. 1« behandelt wird. Das Fass läuft für ihn über, als er wieder einmal nicht ins Gemeindehaus gelassen und »wie ein Terrorist verhört« wird – ausgerechnet, als dort eine Demo gegen die Inhaftierung von Juden im Iran und den Besuch des iranischen Präsidenten Chatami stattfinden soll. »Ich fühlte mich unglaublich verletzt… zu nichts und niemandem zugehörig. Zu keiner Religion, zu keinem Revier, zu keiner Clique, nicht einmal zu meinem eigenen Volk…«
2001 ist Arye Sharuz Shalicar nach Israel ausgewandert. Er hat Internationale Beziehungen studiert und ist seit 2009 Pressesprecher der israelischen Armee.
»Was wäre wohl aus mir geworden, wenn ich mein ganzes Leben im Wedding geblieben wäre?«, fragt er an einer Stelle seines Buches. Und was wird wohl aus all denen, die im Wedding oder in Neukölln bleiben?
Judith Kessler
_Arye Sharuz Shalicar: »Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude«. Die Geschichte eines Deutsch-Iraners, der Israeli wurde. dtv premium 2010, 248 S., 14,90
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