Beitragssuche

Datum / Zeitraum:
Beitragsart:
Kategorie:

Ein Geschenk, das die Welt verändert

01.Juni 2011 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage

Schawuot, die Gabe der Tora und eine moabitische Prinzessin

Geben wir es doch zu: über Schawuot wissen wir nicht sehr viel. Chanukka, Purim, Pessach, Rosch Haschana – die sind bekannt und wir haben gleich bestimmte Bilder vor dem geistigen Auge. An Schawuot jedoch feiern wir das größte Event der gesamten jüdischen Geschichte: »Matan Tora« – die »Erhaltung«, wörtlich sogar »die Schenkung« der Tora am Berg Sinai.

Schawuot ist der Höhepunkt der siebenwöchigen Zählung, die an Pessach begonnen hat. »Schawua« bedeutet auf Hebräisch  »Woche«, der Name des Feiertags Schawuot bedeutet also »Wochen«; insgesamt sind es genau 50 Tage – altgriechisch »Pentecost« (heute als »Pfingsten« bekannt).

Vor über 3 000 Jahren erhielt also das aus Ägypten ausgezogene jüdische Volk in der Sinai-Wüste die Tora. Dieses Ereignis, das die Ideen des Monotheismus, der Gerechtigkeit und der Verantwortung für die Menschheit in die Welt brachte, wurde zur Moralbasis der westlichen Zivilisation. Unserem Volk brachte dieses Ereignis seinen unikalen Charakter, den unzerstörbaren Glauben und sein außergewöhnliches Schicksal.

An diesem Feiertag gibt es keine Chanukkia, keine Homentaschen, keine Mazzot, kein Schofar, keine Symbole, die uns von dem Kernstück des jüdischen Lebens – der Tora –  »ablenken« könnten. Es ist Brauch, möglichst lange aufzubleiben und in gleichgesinnter, fröhlich-ernster Gesellschaft zu lernen. »Tikkun Leil Schawuot«, also »die Perfektionierung, Verbesserung des Lernen der Schawuot-Nacht« spiegelt die Idee wider, dass das Tora-Lernen uns bei der Selbstverbesserung – der zentralen Herausforderung des Lebens – helfen kann.

An Schawuot werden milchige Speisen serviert. An manchen Orten werden die Synagogen mit Grünpflanzen und Blumen dekoriert, in Erinnerung daran, dass alle Pflanzen am Berg Sinai während der Tora-Gabe blühten. Man unternimmt Jom-Tow-Spaziergänge mit Familie und Freunden und wenn man dabei im Tiergarten, im Humboldt-hain oder im Schlosspark Charlottenburg umhergeht, kommt man schnell auf den Gedanken, dass Schawuot nicht zufällig in der schönsten Zeit des Jahres stattfindet, wenn die Natur ein noch frisches und lebendiges Grün zeigt und die Blumen in allen Regenbogenfarben leuchten.

Was aber hat die »Schenkung« der Tora und das Tora-Lernen mit der ewigen Schönheit und der Erneuerung der Natur zu tun? In dem Augenblick, in dem das jüdische Volk die Tora erhält, ist es »ke isch echad belev echad«, wie EIN Mensch mit einem Herz. 600 000 Juden (nicht zu vergessen: zwei Juden = drei Meinungen) denken und fühlen wie EINER? Nach dem Auszug aus Ägypten war das Volk Zeuge unglaublicher Wunder gewesen, hat sich aber sowohl vor der Gabe der Tora als auch danach oft genug beklagt, gestritten, geschimpft und ungläubig gezeigt. An einem Tag haben sie es aber geschafft EINS zu sein – und so sollten auch wir es mit unser ganzen Kraft versuchen, gemeinsam stark zu sein, Empathie zu empfinden, für einander zu sein. Jeder Mensch ist auf die Welt gekommen mit grundverschiedenen Stärken und Schwächen, er sieht, fühlt, riecht und schmeckt individuell und doch weist die Tora jedem einzelnen Menschen seinen ganz besonderen Weg – wenn er diesen Weg der harten Selbstarbeit gehen möchte, einen Weg der permanenten Erneuerung und Veränderung, die – wie in der Natur – zunächst kaum sichtbar ist. Der Lohn aber ist groß und für kein Geld der Welt zu kaufen: es ist die innere Ruhe und Schönheit, die vollkommen unabhängig vom äußeren Alter in einer Person existieren kann und die Stärken dieser Person »im frischen Grün« zum Erblühen bringt. Eine einzigartige Möglichkeit, ein erfülltes Leben zu führen, ist es, das Schawuot-Geschenk anzunehmen. Die Tora liefert uns verschiedene, auf uns persönlich abgestimmte Werkzeuge zur inneren Arbeit an uns selbst. Jede Minute, jede Stunde, jeden Tag und jedes Jahr bekommen wir die Chance zur geistigen Veränderung und können uns beweisen, bei der Arbeit und in der Freizeit, doch vor allem im Umgang mit unseren Mitmenschen und unseren Kindern.

Während des Gottesdienstes am Schawuot-Tag lesen wir das Buch Ruth. Diese spannende und tiefgründige Novelle erzählt vom Schicksal einer reichen jüdischen Familie, die aufgrund einer gespannten wirtschaftlich-sozialen Lage aus Bethlehem in Judäa ins benachbarte Land Moab auswandert: Naomi (»die Liebliche«) und Elimelech (»Gott ist mein König«) mit ihren Söhnen Machlon (»der Kränkliche«) und Kiljon (»der Schwächliche«). In die Fremde stirbt Elimelech, der seine Reichtümer in der Notsituation nicht mit seinen Landsleuten teilen wollte, sondern sie lieber schnell ins Ausland geschafft hat. Die Söhne, die sein enormes Vermögen nun erben, heiraten zwei schöne moabitische Prinzessinen, Ruth und Orpha, sterben jedoch beide – Nomen est omen – einer nach dem anderen nach kurzer Zeit. Die Witwe Naomi, die eigentlich von Anfang an gegen die Emigration war, bleibt mit ihren nun ebenso verwitweten Schwiegertöchtern allein in Moab zurück. Sie entscheidet sich, in ihre Heimat zurück zu kehren.

Prinzessin Orpha (»die Zurückgekehrte«) bedauert es zwar sehr, dass Naomi das Land verlassen will, geht aber in den Palast ihres Vaters zurück. Ruth hingegen besteht darauf, ihre Schwiegermutter nach Israel zu begleiten und mit ihr dort zu bleiben, da sie Naomis besondere innere Werte und ihre Beziehung zum EINEN Gott kennt und bewundert. Naomi versucht, Ruth von dieser Idee abzubringen, denn sie kann Moab nur ohne ihr Vermögen verlassen und würde arm zurückkehren. Ruth antwortet ihr jedoch mit dem allbekannten Satz:  »Dränge mich nicht, dich zu verlassen und umzukehren. Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott.«

In Israel zur Zeit des Feiertages Schawuot angekommen, muss Ruth auf den Feldern Ähren sammeln, um sich und Naomi ernähren zu können. Der Landbesitzer Boas bemerkt Ruth und erfährt über ihr Engagement für das Wohlergehen ihrer Schwiegermutter. Nach einer Zeit heiratet Ruth Boas und gebärt ihm einen Sohn, Obed (er ist der Vater von Ischai und der Großvater König Davids).

Die moabitische Prinzessin Ruth war eine nichtjüdische Frau, die aus Liebe zu Gott und zu seiner Tora zum Judentum konvertiert ist. Auch die Seele dieser Frau war bei der Gabe der Tora am Berg Sinai anwesend. Ihre außergewöhnliche Lebensgeschichte ist mit Schawuot verknüpft, von ihr stammt David Hamelech ab, der sogar an diesem Feiertag geboren wurde. Das Potential für Veränderung ist am Schawuot universell. Die ganze Menschheit kann diese Erneuerung und die Kontinuität des Lebens feiern – von uns aus mit Milchkaffee und Käsekuchen.

Julia Konnik

Ein Geschenk, das die Welt verändert