Beitragssuche
Ehrenamt als Vollzeitjob
30.September 2009 | Beiträge – jüdisches berlin | Gemeinde, Aktivitäten, Menschen
Im Gespräch mit den Leitern der Talmud-Tora-Schule der Jüdischen Gemeinde, Isabella und Adil Bairamov
Isabella und Adil, Sie sind aus der früheren Sowjetunion zugewandert und leiten die Talmud-Tora-Schule in der Jüdischen Gemeinde. Wo haben Sie Ihre Erfahrung her?
Bella: Wir sind ursprünglich aus Baku. Ich hatte dort mein Diplom als Musikdozentin gemacht und 20 Jahre in einer Musikschule gearbeitet. Ich war in Baku aber auch jahrelang ehrenamtlich tätig, als die wirtschaftliche Lage dort noch sehr schlecht war, während des Krieges zwischen Armenien und Aserbaidschan. Zusammen mit meinem Mann gründete ich eine jüdische Organisation, die ich auch leitete und für die wir über 80 Ehrenamtliche zur wohltätigen Arbeit für Kranke und sozial Benachteiligte motivieren konnten. Wir organisierten ein Versorgungssystem für Lebensmittel und Medikamente, aus dem auch eine jüdische Poliklinik und eine Apotheke entstanden. Zum ersten Mal ist es in der Kaukasusregion auch gelungen, zusammen mit dem »American Joint Distribution Committee« einen jüdischen Kindergarten und später zusammen mit einer anderen amerikanischen Organisation eine jüdische Schule zu eröffnen, und dann auch noch ein Kulturzentrum.
Dann mussten wir aber aus gesundheitlichen Gründen ziemlich schnell alles verlassen und sind 1996 nach Berlin gegangen, zusammen mit unserer jüngeren Tochter. Unsere ältere Tochter war gerade mitten im Studium und blieb in Baku. Das war ziemlich schwierig für uns. Als wir dann in Berlin angekommen waren, arbeiteten wir hier für die Gemeinde und verschiedene Organisationen unter anderem in einem Wohnheim für jüdische Zuwanderer. Im Jahre 2000 wurde in Zusammenarbeit mit Rabbiner Ehrenberg dann die Talmud-Tora-Schule gegründet, die ich seitdem mit Unterstützung meiner Familie – unsere älteste Tochter ist mittlerweile auch in Berlin – leite und die großen Anklang unter den russischen Einwanderern findet. Für meine ehrenamtliche Arbeit habe ich schon verschiedene Diplome und Auszeichnungen erhalten, unter anderem als Lehrerin für jüdische Bräuche, Kultur und Tradition.
Adil: Der Weg der Talmud-Tora-Schule war nicht so einfach. Wir haben am Anfang im Kidduschraum in der Joachimstaler Straße gearbeitet, der aber für die immer mehr werdenden Kinder schon lange zu klein war. Anfang 2009 haben wir dann endlich dank des Vorstands Räume im Vorderhaus der Joachimstaler Straße 13 bekommen.
Bella: An dieser Stelle bedanken wir uns noch einmal auf das Herzlichste bei Lala Süsskind, Liliana Liebermann und Grigorij Kristal, die uns damit wirklich sehr geholfen haben.
Adil: In den Räumen haben wir alles selber gemacht. Wir haben gemalert, Gardinen genäht und so weiter. Da steckt jede Menge Handarbeit drin.
Was bietet die Talmud-Tora-Schule an?
Bella: Wir sind eine Bildungseinrichtung für jüdische Erziehung und Bildung. Für Kinder ab vier bis ins Bar und Bat Mizwa-Alter, aber auch für Erwachsene. Ein großer Teil der Teilnehmer sind Familien aus der ehemaligen Sowjetunion. Die Eltern sind ja wie wir assimiliert aufgewachsen und daher fällt es ihnen schwer, ihre Kinder religiös und kulturell jüdisch zu erziehen. Wir wollen Interesse wecken und versuchen, dabei auch auf die individuellen Wünsche einzugehen.
Adil: Wenn zum Beispiel nach musischer Erziehung gefragt wird, dann bauen wir das in den jüdischen Kontext ein. Wir lehren Hebräisch, Deutsch, Englisch und Russisch mit qualifizierten Lehrern, die größtenteils ebenfalls ehrenamtlich arbeiten.
Bella: Ohne sie wäre das Ganze nicht möglich, denn wir bekommen so gut wie kein Geld für unsere Arbeit. Aber zurück zu unseren Kursen: neben den Kindern brauchen auch die Eltern Hilfe und wir bemühen uns, sie in die Ausbildung mit einzubeziehen. Sie haben auch Schwierigkeiten und Ängste, sich in die deutsche Gesellschaft einzufinden. Dies versuchen wir mit einem Elternklub zu fördern. Während die Kinder lernen, können dann die Eltern über ihre Probleme und Erfahrungen sprechen. Ich versuche auch, die Eltern in die Gemeinde einzubeziehen, denn es kommen viele Kinder und ältere Menschen in die Gemeinde, aber Menschen zwischen 25 und 55 sind wenig eingebunden. Das Hauptziel ist natürlich, den Familien unsere Jahrtausende alten Traditionen näher zu bringen. Wir bieten aber auch Basteln, Malen und kreatives Denken an sowie Schach, jüdische Tänze und Sport, und natürliche das Fach Judentum, in dem wir mit einem tollen Buch arbeiten, das »Meine kleine Tora« heißt, und ein Frauenseminar, in dem es um Kaschrut und jüdisches Familienleben geht. Wir möchten die kommenden Generationen nicht verlieren, sondern sie an die jüdische Religion und Tradition heranführen.
Adil: Im Moment haben wir ein neues Programm. Wir wollen einen jüdischen Knabenchor gründen.
Bella: In anderen Ländern wie der Schweiz oder Italien ist es schon gang und gäbe, dass der Gottesdienst von einem Chor begleitet wird. Wir wollen das auch anbieten.
Ich habe gehört, Sie organisieren auch Machanot?
Adil: Ja, damit hatten wir natürlich während der Sommerferien die Hauptarbeit. Der Andrang war wieder riesig und es war ein großer Erfolg. Die Kinder können in einem entspannten, fröhlichen Umfeld Judentum erleben und lernen, neue Freunde finden und eine schöne Zeit haben. Die Madrichim werden von unserer großen Tochter angeleitet. Sie ist Sozialpädagogin und der Experte unter uns.
Und das wird alles ehrenamtlich geleistet?
Bella: Bis auf einige Lehrer und die Madrichim, die ein wenig Geld bekommen, sind wir alle ehrenamtlich tätig.
Adil: Wir müssen natürlich versuchen, die Ausgaben so niedrig wie möglich zu halten, denn auch wenn die Gemeinde uns unterstützt, müssen in Zeiten der Einsparungen alle zurückstecken. Daher haben wir auch Klubs von Besuchern für Besucher, wo man zwar Vorbereitung hat, aber den Kursleiter »spart«, wie zum Beispiel den Musik- oder den Hobbyklub. Dort können Menschen, die sich für eine bestimmte Musik interessieren oder besondere Kenntnisse darüber haben, Alben sammeln oder sich den anderen mitteilen. Hat man ein besonderes Hobby, über das man etwas Tolles erzählen kann, dann kommt man zu uns in den Hobbyklub und gibt sein Wissen weiter, zum Beispiel über Biere – schließlich sind wir in Deutschland, wo mit das meiste Bier getrunken wird…
Bella: Letztendlich kommt es immer darauf an, in Gesellschaft zu sein, sich zugehörig, verstanden und gut aufgehoben zu fühlen, seine »Jüdischkeit« auszuleben oder eben erst lernen zu können.
Adil: Wir sind aber übrigens nicht nur für Juden offen. Auch Nichtjuden, die sich für das Judentum oder unsere jüdischen Themen interessieren oder auch für einen Giur lernen wollen, sind herzlich willkommen. Wir sind für alle da!
Das Gespräch führte Nadine Bose.
_Weitere Informationen jeden Monat im jb-Kalender oder direkt in der Talmud-Tora-Schule, Joachimstaler
Str. 13, T. 448 21 53 oder 0170-947 97 18
jüdisches berlin
2012_24 Alle Ausgaben
- Dezember 2024
- November 2024
- Oktober 2024
- September 2024
- Juni 2024
- Mai 2024
- April 2024
- März 2024
- Februar 2024
- Januar 2024
- Dezember 2023
- November 2023
- Oktober 2023
- September 2023
- Juni 2023
- Mai 2023
- April 2023
- März 2023
- Februar 2023
- Januar 2023
- Dezember 2022
- November 2022
- Oktober 2022
- September 2022
- Juni 2022
- Mai 2022
- April 2022
- März 2022
- Februar 2022
- Dezember 2021
- November 2021
- Oktober 2021
- September 2021
- Juni 2021
- Mai 2021
- April 2021
- Januar 2018
- März 2021
- Februar 2021
- Mai 2020
- Januar 2021
- Dezember 2020
- November 2020
- September 2020
- Oktober 2020
- Juni 2020
- April 2020
- März 2020
- Februar 2020
- Januar 2020
- September 2019
- November 2019
- Juni 2019
- Mai 2019
- April 2019
- März 2019
- Februar 2019
- Dezember 2018
- Januar 2019
- Mai 2015
- November 2018
- Oktober 2018
- September 2018
- Juni 2018
- Mai 2018
- April 2015
- März 2015
- März 2018
- Februar 2017
- Februar 2018
- fileadmin/redaktion/jb197_okt2017.pdf
- September 2017
- Juni 2017
- April 2017
- November 2017
- Januar 2017
- Dezember 2016
- November 2016
- Oktober 2016
- September 2016
- Juni 2016
- Mai 2016
- April 2016
- März 2016
- Februar 2016
- Januar 2016
- Dezember 2017
- Dezember 2015
- November 2015
- September 2015
- Juni 2015
- Oktober 2015
- Februar 2015
- Januar 2015
- Dezember 2014
- November 2014
- Januar 2022
- Oktober 2014
- September 2014
- Juni 2014
- Mai 2014
- März 2014
- Februar 2014
- Januar 2014
- Dezember 2013
- November 2013
- Oktober 2013
- Juni 2013
- Mai 2013
- April 2013
- März 2013
- Februar 2013
- Januar 2013
- Dezember 2012
- November 2012
- Oktober 2012
- September 2012
- Juni 2012
- Mai 2012
- April 2012
- März 2012
- Februar 2012
- Januar 2012