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Die Mutter der Jugend-Alijah

01.Mai 2013 | Beiträge – jüdisches berlin | Menschen

Vor 80 Jahren entstand auf maßgebliche Initiative von Recha Freier die Kinder- und Jugend-Alijah


Als die Jüdische Gemeinde zu Berlin am 9. April 2008 an den 75. Jah­restag der Gründung der Kinder- und Jugend-Alijah erinnerte, rief die da­malige Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Bundestag, Herta Däubler-Gmelin (SPD), dazu auf, einen Berliner Platz nach Recha Freier (1892–1984) zu benennen. Jetzt wiederholt sich der Jahrestag zum 80. Mal: Am 30. Mai 1933 entstand aus der Vereinigung des von Recha Freier gegründeten »Hilfskomitees für jüdische Jugendhilfe« mit der »Jüdischen Waisenhilfe« und dem Berliner Kinderheim »Ahawa« die Jugend-Alijah.

Im Jüdischen Gemeindehaus in der Fasanenstraße erinnert seit 1984 eine der weißblauen Berliner Gedenktafeln aus KPM-Porzellan an die Retterin tausender Kinder aus Nazi-Deutschland, doch ansonsten gibt es nichts, was die Öffentlichkeit auf die Leistungen dieser ungewöhnlichen Frau aufmerksam machen könnte. Wer also war Recha Freier?

»Nein, eine typische Rebbetzin war Recha nun wirklich nicht«, sagte die im letzten Herbst verstorbene Rabbinergattin Irene Jacob über ihre unorthodoxe Cousine aus traditionellem Haus und musste bei der bloßen Vorstellung schmunzeln. Die im ostfriesischen Städtchen Norden geborene Recha Schweitzer, eine studierte Philologin und passionierte Pianistin, heiratete 1919 Moritz Freier, den damaligen Rabbiner in Eschwege bei Kassel. 1922 ging das Paar für vier Jahre nach Sofia, 1926 kehrte die inzwischen auf drei Söhne angewach­sene Familie nach Deutschland zurück. Moritz Freier wurde in Berlin Gemeinderabbiner an den orthodox ausgerichteten Synagogen in der Heidereutergasse, der Rykestraße und Kaiserstraße. Seine Frau war zu dieser Zeit wieder als Lehrerin an höheren Schulen, als Volkskundlerin und freie Autorin tätig und widmete sich der Erforschung von Märchen.

1932 wandten sich fünf arbeitslose 16-Jährige an die überzeugte Zionistin und baten um ihre Hilfe bei der Übersiedlung nach Palästina. »Die ganze Sinnlosigkeit jüdischen Lebens in der Diaspora stand plötzlich greifbar vor meinen Augen«, schrieb sie später darüber. Sie handelte: Am 12. Oktober 1932 reiste die erste jüdische Jugendgruppe vom Anhalter Bahnhof aus nach Haifa ins britische Mandatsgebiet.

Als neu ernannte Leiterin der Jugendhilfe der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland suchte Recha Freier ständig nach Mitteln und Wegen, jüdische Kinder außer Landes zu bekommen. Ihr Engagement stieß aber auf den Widerstand der zionistischen Bewegung, die in Palästina keine unerfahrenen Jugendlichen gebrauchen konnte, sondern ausgebildete Fachkräfte bevorzugte. Selbst Henrietta Szold, die Hadassah-Begründerin und spätere Direktorin der Jugend-Ali­jah in Jerusalem, tat sich schwer: » Ich habe hier so viele Probleme und so viele Aufgaben, ich kann nicht noch Kinder aus dem Ausland aufnehmen«.

 

         

Recha Freier, 1930er Jahre

Recha Freier, 1930er Jahre

»Sie zögerte nie, gegen den Strom zu schwimmen«, erinnert sich Susan Caine (Jerusalem) an ihre Großmutter. »Sie forderte das Establishment heraus, Juden wie Nichtjuden, sei es nun in Deutschland, anderswo in Europa oder später auch in Israel.«

Recha Freier ließ sich nicht entmutigen, besorgte Visa und Schiffspassa­gen und stellte den Kontakt zu Kibbuzim und zum Jugenddorf Bet She­mesh her. Es gelang ihr, zusammen mit der Sozialarbeiterin Käte Rosen­heim (1892–1979) mehr als 9600 Kinder aus Nazi-Deutschland nach Eng­land, Dänemark und Palästina zu bringen – zu wenige, wie sie später immer wieder beklagte. Während dieser Jahre widmete sie alle Kraft den Bedürftigen um sich. Ihrem Mann und ihren drei Söhnen war nach und nach die Flucht nach London gelungen. »Jeder Abschied muss herzzerreißend gewesen sein«, sagt ihre Enkelin. »Ich frage mich oft, wie eine so entschiedene, aber doch ganz auf sich allein gestellte Frau es insbesondere nach den Novemberpogromen 1938 schaffen konnte, Tag für Tag Lebensmittel zu besorgen und den Haushalt für ihre kleine Tochter, für ihre verwitwete Mutter, ihren stark sehbehinderten Bruder und zwei Schwägerinnen zu führen und sich dabei unbeirrt für ihre Sache, die Rettung jüdischer Kinder, einzusetzen, trotz aller Behinderung von offizieller Seite.«

Als am 13. September 1939 mehrere tausend jüdische Männer polnischer Herkunft in KZs verschleppt wurden, erzwang Recha Freier die Unterstüt­zung der Jüdischen Gemeinde. »Am Rande der Legalität nutzte sie erfolgreich alle Handlungsspielräume, um diese Männer aus den KZs zu befreien und ihnen die Flucht nach Palästina zu ermöglichen«, schreibt Gudrun Maierhof in ihrem Buch Selbstbehauptung im Chaos. Frauen in der jüdischen Selbsthilfe 1933. Recha Freier wurde daraufhin ihrer Ämter innerhalb der Reichsvereinigung ent­hoben. Nach einer Auseinandersetzung mit Adolf Eichmann flüchtete sie 1940 mit ihrem jüngsten Kind, der elfjährigen Tochter Maayan, auf abenteuerliche Weise über Wien, Zagreb, die Tür­kei, Griechenland und Syrien. In Zagreb besorgte sie noch 90 Einreisezertifikate für jüdische Kinder aus Deutschland und Österreich und beauftragte den jungen Ha’Schomer Ha’Zair-Führer Josef Itai damit, eine weitere Gruppe von 30 Kindern nach Palästina zu bringen. Sie selbst kam im März  1941 in Jerusalem an und wohnte dort schließlich mit ihren Kindern in einem Haus im Stadtteil Katamon.

In Jerusalem gründete Recha Freier das Agricultural Training Center for Israeli Children sowie die Stiftung Testi­monium zur Förderung von Kompositionen israelischer Künstler. Nicht von ungefähr schlug Albert Einstein sie 1954 für den Friedensnobelpreis vor, vergeblich. Freier wurde aber mit der Ehrendoktorwürde der Hebräischen Universität Jerusalem und 1981 mit dem Israel-Preis ausge­zeichnet. Heute erinnert in Jerusalem ein Platz, der Kikar Freier, an die Mutter der Jugend-Alijah, die hier bis zu ihrem Tod 1984 zu Hause war.

»Berlin hat uns verjagt und ich bin sehr dagegen, dass dort eine Straße nach Recha Freier benannt wird«, schreibt ihre Tochter Maayan Landau. »Ich schätze die Bemühungen,  meine Mutter zu ehren, aber nicht als Straßenschild,  dass womöglich früher oder später mit Steinen kaputt gemacht wird. Mir wäre es aber sehr wichtig, dass meine Mutter und ihre Tätigkeiten in Libeskinds Jüdischem Museum in Berlin erwähnt werden.«              

Hartmut Bomhoff