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Die »Jüdische Arbeiterkolonie und Asyl«
05.Januar 2009 | Beiträge – jüdisches berlin | Orte
Zur Geschichte des Hauses einer fortschrittlichen Sozialeinrichtung in Weißensee
»Stattlich erheben sich an der Wörthstraße zu Weißensee die von allen Seiten freien Bauten der Kolonie, des Asyls, nebst dem Werkstattgebäude und Lagerschuppen. [...] Wohl den Kolonisten, dass sie für Monate der tobenden Welt da draußen entrückt sind, um besser für einen siegreichen Daseinskampf ausgerüstet, wieder in sie eintreten zu können!«
Mit diesen feierlichen Worten beschrieben die »Mittheilungen vom Deutsch-Israelitischen Gemeindebunde« im Frühjahr 1902 die im selben Jahr eröffnete erste jüdische Arbeiterkolonie in Deutschland.
Die vom Deutsch-Israelitischen Gemeindebund (DIGB) 1898 ins Leben gerufene »Kommission zur Bekämpfung der Wanderbettelei« war es auch, die die Gründung der Arbeiterkolonie Weißensee veranlasst hatte. Ihr Ziel war es, den Anteil der deutschen Juden an der Wanderbettelei »völlig zu beseitigen, indem die Arbeitsunfähigen an Ort und Stelle unterstützt, die Arbeitsfähigen je nach Veranlagung und Neigung entweder durch die Bureaus für Arbeitsnachweis untergebracht oder mit einem kleinen Kapital wirthschaftlich selbstständig gemacht werden.«
Die erste jüdische Arbeiterkolonie wandte sich an Wanderbettler, Arbeitslose, Auswanderer auf Durchreise und entlassene Strafgefangene, die bisher auf nichtjüdische Einrichtungen angewiesen waren.
Vor allem drei Motive führten zur Gründung einer speziell jüdischen Anstalt: das Ausüben von Wohltätigkeit als religiöser Pflicht, eben auch durch Hilfe zur Selbsthilfe; die Möglichkeit für die Arbeitsuchenden, hier gemäß den jüdischen Religionsvorschriften zu leben; und sie sollte antisemitischer Propaganda entgegenwirken, in dem sie dem »Bettelunwesen« abhalf, das dem Ansehen der Glaubensgemeinschaft schadete.
Zum Zeitpunkt der Einweihung der Kolonie gab es in Deutschland bereits etwa 30 nichtjüdische Einrichtungen dieser Art, die seit den 1880er Jahren im Zuge von Industrialisierung, Wirtschaftskrise und Landflucht vornehmlich von den Kirchen gegründet worden waren und auf dem Prinzip »Arbeit statt Almosen« beruhten.
Zum Zweck der »Errichtung einer Arbeiter-Colonie nebst Asyl für arme Israeliten« stiftete der frühere Rittergutsbesitzer Ludwig J. Meyer bereits 1899 dem DIGB ein Terrain von 11 745 qm in der Wörthstraße 20 in Weißensee. Im Westen, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, befindet sich bis heute der Friedhof der St. Hedwigs-Kirche und östlich hinter dem damaligen Verlorenen Weg liegt der Begräbnisplatz der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Nach Osten hin verbreiterte sich das Grundstück zu 8 000 qm Ackerland, auf dem Gemüse, Kartoffeln und Getreide angebaut wurden.
Um dem Bau der Kolonie eine rechtliche und organisatorische Form zu geben, wurde am 9. Juni 1901 der Verein »Jüdische Arbeiterkolonie und Asyl in Weißensee bei Berlin« gegründet. Als Ziel des Vereins nennen die Satzungen die »Beschränkung der Wanderbettelei und Hebung der wirthschaftlichen und moralischen Lage der jüdischen Armen durch: a) Aufnahme arbeitsloser, aber arbeitsfähiger und arbeitswilliger Männer, deren Beschäftigung mit passender Arbeit gegen entsprechendes Entgelt bis zur anderweitigen freien Unterbringung; außerdem b) Gewährung eines vorübergehenden Asyls für die Deutschland passierenden jüdischen Auswanderer«.
Die Finanzierung des Baus wurde 1899 mit einem Darlehen der Jewish Colonization Association (Baron Hirsch-Stiftung) sichergestellt. Im Oktober 1900 genehmigte die Baubehörde die Entwürfe aus dem Büro des Gemeindebaumeisters Johann Hoeniger und seines Kollegen Jakob Sedelmeier, die ein »Hauptgebäude, […] mit Stall, Familienasyl, Tischlerei, Schuppen« vorsahen. Dieses Ensemble ist bis heute weitgehend erhalten. Die Architekten entwarfen einen für die Jahrhundertwende typischen Rohziegelbau. Das viergeschossige Hauptgebäude erhielt ein Satteldach, verputzte Wandfelder und zwei ungleich gestaltete geschweifte Dachgiebel. Eingänge befanden sich an der Südseite und in der Rückfassade.
Die Raumanordnung fand – wie zeitgenössische Berichterstatter betonten – »unter Beobachtung der Vorschriften der technischen Praxis und der Hygiene« statt. Der südliche Gebäudeflügel beherbergte die Räume der Verwaltung und des Personals. In der Gebäudemitte befanden sich Schlaf- und Gemeinschaftsräume für insgesamt 100 Personen. Im Keller gab es Bäder und Vorratsräume. In den Etagen des nördlichen Teils waren Sanitäranlagen, Schlafsäle und eine Synagoge mit 86 Männer- und 18 Frauenplätzen eingerichtet – »ein schlicht, aber würdig ausgestatteter Raum«.
Im hinteren, östlichen Teil des Grundstücks wurde in der selben Bauweise das Asyl für durchreisende Auswandererfamilien und erkrankte Obdachsuchende errichtet. An der nördlichen Grundstücksgrenze gab es ein Werkstattgebäude mit Tischlerei sowie Schuppen und Ställe. Das Haus wurde im Februar 1902 in Betrieb genommen und im September mit einem Gottesdienst und unter Anwesenheit von diversen Stadtverordneten eingeweiht. Zu diesem Zeitpunkt lebten hier bereits 50 Kolonisten, die unter anderem Särge, Teppichklopfer, Spazierstöcke, Gürtel, Hosenträger, Bürsten und Zigaretten herstellten. Die Direktion warb vor allem bei ortsansässigen Unternehmern um die Erteilung von Arbeitsaufträgen und die Anstellung ihrer Schützlinge.
In ihrer Freizeit konnten die Kolonisten an gestifteten Turngeräten Sport treiben, im Anstaltschor singen, berufliche und allgemeinbildende Vorträge hören und »zur moralischen Aufrichtung« die Synagoge besuchen. Beköstigt wurden sie mit in der Anstaltsküche zubereiteten koscheren Speisen.
In den folgenden Jahren lag die Zahl der Kolonisten kontinuierlich zwischen 80 bis 90 Männern, die aus Galizien, Russland, Ungarn, Böhmen, aber auch aus Deutschland kamen.
Die Kolonie finanzierte sich über Spenden, und ihre Haushaltslage war stets angespannt. Seit dem Ersten Weltkrieg verschlechterte sie sich jedoch so, dass 1921 oder 1922 der Betrieb eingestellt werden musste.
Am 3. September 1923 übergab der DIGB das Hauptgebäude einer neuen Bestimmung: Fortan war es ein »Dauerheim für jüdische Schwachsinnige«, das erwachsene Behinderte aufnahm, die aus der »Israelitischen Erziehungsanstalt für geistig zurückgebliebene Kinder in Beelitz (Mark)« entlassen worden waren. Dazu waren die großen Schlafsäle durch Rabitzwände in je zehn kleinere Zimmer unterteilt worden. So konnten 30 Männer und 30 Frauen aufgenommen werden, die in Zimmern für zwei, vier oder sechs Personen wohnten und die auf freiwilliger Basis in der Gärtnerei, in der Schneiderei oder im Haushalt der Anstalt arbeiteten. 1935 wurde zusätzlich ein Mädchenheim eingerichtet.
Im April 1939 wurde der DIGB gezwungen, das Grundstück für 28 386 Mark an die Stadt Berlin zu verkaufen. Da auf dem Grundstück noch eine Hypothek der Jewish Colonization Association lag, zog sich die Übergabe jedoch hin. Im April 1942 wurden die ersten Bewohner des Heims nach Trawniki deportiert, im Oktober die letzten – nachdem der Bezirksbürgermeister von Prenzlauer Berg in einem Schreiben an seinen Weißenseer Amtskollegen ungeduldig Anspruch auf das »frei gemachte« Grundstück erhoben hatte.
Seit 1951 heißt die Wörthstraße Smetanastraße; das Grundstück erhielt die Hausnummer 53. In der DDR diente das Gebäude als Verwaltungsgebäude. Im Hof wurde ein Gedenkstein zur Erinnerung an die deportierten Bewohner aufgestellt. Im Sommer 2008 übernahm eine Baumanagementfirma das Grundstück. Sie will das Gebäude sanieren und Eigentumswohnungen einrichten.
Daniela Gauding
Die Autorin ist Mitarbeiterin der Stiftung Neue Synagoge Berlin, Forschungsprojekt »Bauten jüdischer Gemeinschaften in Berlin bis 1945«
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