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Die »furchterregenden Tage«

24.August 2010 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage

„Ihr seht, ihr gedenkt, ihr tut!“

Gott sei Dank kommen uns wie in jedem Jahr die »jamim nora´im« wieder entgegen, wörtlich übersetzt: »furchterregende Tage«. Im Deutschen bezeichnet man das Neujahrsfest und den Versöhnungstag auch als »Hohe Feiertage« im Sinne von »wichtige, bedeutende Feiertage«. Eine andere Übersetzung lautet »Tage der Ehrfurcht«. Mit diesem Begriff werden nicht nur Zeiten, sondern auch Orte bezeichnet. Dieser biblische Ausdruck erscheint in den Geschichten des Erzvaters Jaakov. Als dieser vor seinem Bruder Esav zu seinem Onkel Laban in Mesopotamien flieht, sagt er, nachdem er – noch im Land Israel – von den Engeln geträumt hatte, die die Himmelsleiter hinauf und wieder zurück auf die Erde gestiegen waren: »Wie furchterregend ist dieser Ort! Dies ist kein andres als ein Haus Gottes, und dies ist das Tor des Himmels.« (1. Mose 28,17)

Eines der berühmtesten Gedichte für die Hohen Feiertage »Netane Tokef«, eine mittelalterliche Dichtung (obwohl seine Abfassung Rabbi Amnon aus Mainz zugeschrieben wird, der in der Kreuzfahrerzeit lebte, ist der Text wohl in Erez Israel entstanden – er wurde auf Fragmenten der Kairenser Genisa gefunden), beginnt: »Wir wollen die Heiligkeit des Tages schildern, denn er ist Ehrfurcht erregend und furchtbar.« Furchtbar bedeutet hier, dass er Angst und Schrecken verbreitet, wie es beim Propheten Amos heißt: »Der Löwe brüllt – wer fürchtet sich nicht?« (Amos 3,3). Nicht eigentlich der Löwe gilt hier als das zu Fürchtende, sondern das Gebrüll, das aus seinem Rachen kommt. Und wie im Judentum oft üblich, erinnern wir uns an den Löwen (hebr. »ARJeH«), indem wir dieses Wort als Akronym anschauen, als Kunstwort, das aus den Anfangskonsonanten von vier anderen Wörtern zusammengesetzt ist:

A elul

R osch ha-Schana

J om ha-Kippurim

H oschana Rabba (= Sukkot)

So sind der Monat vor den »furchterregenden Tagen« (Älul) und alle Feste des ersten Monats des neuen Jahres (Tischri) in diesem Wort enthalten.

Mit diesem Buchstabenmidrasch wollen wir daran erinnern, dass die Vorbereitung auf das neue Jahr sich nicht auf nur drei Tage beschränkt, wie viele (die jüdischen Minimalisten) denken. Die Vorbereitungen beginnen vielmehr mit dem Monat vor den Hohen Feiertagen (Älul), der Monat der Barmherzigkeit und der Verzeihung genannt wird, und erstrecken sich danach über den ganzen Monat Tischri, vom Neujahrstag bis zum Torafreudenfest (im Exil/in der Diaspora: der zweite Diasporafeiertag des Festes Schemini Azeret).

Rabbiner Tovia Ben-Chorin zu Gast in der Heinz-Galinski-Schule

Rabbiner Tovia Ben-Chorin zu Gast in der Heinz-Galinski-Schule

In diesem Jahr konzentrieren wir uns auf die Feiertage des Monats Tischri. Lassen Sie uns diese Feiertage hinsichtlich ihrer erzieherischen Bedeutung untersuchen. Die jüdische Pädagogik wird zusammenfassend in einem Vers im dritten Abschnitt des »Schma« (4. Buch Mose 15,37-41) im Hinblick auf das Betrachten und Küssen der Schaufäden (Zizit) erklärt. In der Tora unterscheiden wir hier drei Tätigkeiten mit einem rationalen, emotionalen und seelischen Gehalt – zwei von ihnen sind passiv, eine ist aktiv: »Sie sollen sich ein Geblätter (Zizit) machen an die Zipfel ihrer Kleider… es sei euch zu einem Blattmal: Ihr seht es an – / ihr gedenkt all SEINER Gebote, /ihr tut sie / und schwärmt nicht hinter eurem Herzen und hinter euren Augen, hinter denen ihr herhurt« (4. Mose 15,38-39; Übersetzung: Buber/Rosenzweig). 

Die Grundstufe des Lernens ist das Ingangsetzen des visuellen Sinnesorgans, des Sehens – und dies führt zum Gedenken. Dabei gilt es natürlich, sich bekannter Symbole zu bedienen, die die Erinnerung im Hinblick auf das Gelernte wachrufen. So stellt ein Junge oder ein Mädchen in der Sedernacht beispielsweise die vier Fragen: Was ist in dieser Nacht anders als in allen anderen Nächten? Die Fragen beziehen sich auf Unterschiede, die mit dem Auge wahrnehmbar sind. Wenn wir diesen Maßstab des Sehens und des Gedenkens nun an  die Feste des Monats Tischri anlegen, so sehen wir eine allmähliche Entwicklung. Das Neujahrsfest zeichnet sich durch ein herausragendes Symbol aus: das Widderhorn (Schofar); bei vielen aschkenasischen Juden kommen als Symbole noch Apfel und Honig, bei sefardischen Juden noch andere Speisen hinzu. Der Klang des Widderhorns soll unsere Erinnerung wecken, und so trägt eines der Zentralgebete am Neujahrstag (im Mussafgebet) den Namen »Sichronot« (Erinnerungen) – nach diesem Gebet wird das Widderhorn geblasen. Während der Tischri-Feste ist die dominierende Farbe in der Synagoge weiß – eine Farbe, die emotional an Lauterkeit, Sauberkeit, spirituelle Reinheit und ethisches Verhalten erinnert. 

Der Versöhnungstag besteht ganz aus Spiritualität. Das Fasten begleitet uns 25 Stunden lang. Unmittelbar nach dem Ende des Jom Kippur ergießt sich ein ganzer Regen von Symbolen im Sinne des »ihr seht es an« über uns. Der Beginn des Baus der Laubhütte, die bis zum Vorabend des Sukkotfestes fertig gestellt wird; die vier Pflanzengattungen des Sukkotfestes (Lulaw, Myrte und Weide zusammengebunden mit dem Etrog). Zudem ist es üblich, wirkliche Gäste oder symbolische Gäste (etwa aus der Bibel: Abraham, Jitzhak, Jaakov, Josef, Mosche, Aharon, David – jeden Abend der Reihe nach einen von ihnen) in die Laubhütte einzuladen – diese symbolischen Gäste werden auf Hebräisch »Uschpisin« genannt. Diese Symbole sollen unsere Erinnerung wecken und uns Freude bereiten, sie sollen uns verbinden mit dem Land Israel, sie sollen eine Beziehung herstellen zur Zeit der Wüstenwanderschaft in das Land Israel. Daneben ist die Laubhütte ein Symbol für das Provisorische des Lebens. Wie ich die Laubhütte schmücke, so habe ich Vergnügen und bereite anderen Vergnügen. Nach Schemini Azeret kommt das Fest – und vor allem der zweite Feiertag in der Diaspora, das Torafreudenfest – zu einem Höhepunkt mit dem Tanz mitsamt der Torarolle in der Synagoge, den Hakafot! Das Buch des Bundes in der Hand der Beter – und in einigen Berliner Synagogen auch der Beterinnen! Der Vertrag, der zwischen dem Volk Israel und dem Schöpfer besteht, das Buch, das die Grundlage unserer Existenz als Juden und als Menschen ist.

Lassen Sie uns noch einmal zum Laubhüttenfest zurückkehren. Weil viele von uns keine eigene Laubhütte bauen, empfehle ich, dass wir versuchen, unser Haus mit den vier Pflanzengattungen zu schmücken. Lassen Sie uns diese Gelegenheit wahrnehmen und dies tun. Wie wir bestimmte Anlässe mit einem Blumenstrauß feiern, so können wir die Sukkotwoche mit den vier Pflanzen des Laubhüttenfestes begehen. Sie stehen dann im Zentrum des Hauses – und so können wir uns in dieser Zeit auch daheim dieses Festes bewusst sein.

Der Wert des Sehens und des Erinnerns liegt im Tun. Das »ihr tut« hat zwei unterschiedliche Ebenen: Zunächst geht es um den Gebrauch der Symbole und darum, sich mit ihnen zu begnügen. Des Weiteren sollen wir aber durch diese Symbole sensibel für die Gerechtigkeit unter uns und in der Gesellschaft, in der wir leben, gemacht werden. Die Talmudweisen haben uns gelehrt: »Die Gebote wurden nur deshalb gegeben, um die Menschen durch sie zusammenzuschließen« (Bereschit Rabba, Kap. 44). Demnach ist das Gebot ein pädagogisches Mittel, um uns zu veredeln und uns dem anderen gegenüber zu öffnen.

Im Monat Tischri sollten wir uns nicht mit dem Sehen und Gedenken in der Synagoge allein begnügen. Lassen Sie uns in diesem Jahr mehr als sonst darum bemüht sein, dass die vier Pflanzen in viele Häuser gelangen und dort während des Laubhüttenfestes an zentraler Stelle stehen. Fragen Sie doch die Rabbiner, die Vorbeter und andere Gemeindemitglieder, was mit den vier Pflanzen zu tun ist. Das Schwenken des Lulaw wird »Netilat-Lulaw«-Gebot genannt. Das Ausüben dieses Gebots verbindet uns mit dem Land Israel – nicht durch Krisen und militärische Aktionen, sondern durch das symbolische Zurschaustellen der ersten Pflanzen, die die Israeliten nach ihrer Wüstenwanderung im verheißenen Land antrafen. Die Talmudweisen haben diese Pflanzen zum Symbol der wichtigsten Glieder des Menschen erklärt: der Lulaw entspricht dem Rückgrat, die Myrte den Augen, die Weide den Lippen, der Etrog dem Herzen.

Wenn Sie dieses Jahr an den Hohen Feiertagen in die Synagoge gehen, so nehmen Sie dies doch nicht nur im Zusammenhang mit den zehn Tagen der Buße wahr – fassen Sie die Feste des Tischrimonats in einem Zusammenhang auf. Und dann vom Leichteren zum Schwereren: vom Widderhorn, jenem Symbol, das uns sofort an den Neujahrstag und den Versöhnungstag erinnert, zu den etwas komplexeren Symbolen: Dieses Jahr – die vier Pflanzenarten.

Wenn der Monat Tischri nur mit dem Sehen und dem Gedenken zu tun hätte, gliche er einem Museumsbesuch. Wenn der Übergang noch in diesem Monat zum Tun stattfindet, werden wir die Resultate in der Gemeinde sehen: größere Herzlichkeit unter uns, unter Männern und Frauen, unter Bundesgenossen des Sinaibundes (Juden) und Bundesgenossen des Noahbundes (Nichtjuden). »Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist« (Psalm 51,12). »Ihr seht, ihr gedenkt, ihr tut!«

 

Mit den besten Wünschen für ein gutes Neues Jahr

Adina und Rabbiner Tovia Ben-Chorin