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Die erste Frau in der RV
01.Juni 2011 | Beiträge – jüdisches berlin | Gemeinde, Menschen
Bianka Hamburger, erstes weibliches Mitglied der Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, wurde in der Englerallee 6 mit einem Stolperstein geehrt
Bianka Hamburger (1877–1942) war in der Weimarer Republik eine bedeutende Frau. Sie war Vorstand der Jüdischen Reformgemeinde, wurde als Vertreterin der Liberalen bei der ersten Gemeindewahl mit Frauenwahlrecht 1926 in die Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin gewählt, war Abgeordnete des Preußischen Landesverbands der Jüdischen Gemeinden und unter anderem Vorstandsmitglied und Verwaltungsleiterin des Jüdischen Krankenhauses in Berlin. Aufgrund der schwierigen Quellenlage blieb aber ihr Beitrag zur Gleichberechtigung der Frau, zur Sozialarbeit und innerjüdischen Politik – anders als bei Berta Falkenberg oder Minna Schwarz – bisher weitgehend unentdeckt. Bereits 1907 war Frau Magistratsrat Bianka Hamburger zusammen mit Alice Salomon Schriftführerin des Comités zur Errichtung von Arbeiterinnenheimen, 1917 verlieh ihr Kaiser Wilhelm II. das »Verdienstkreuz für Kriegshilfe«.
Bianka Hamburger war mit dem Politiker Ludwig Hamburger (1867–1923) verheiratet, sie lebten im Hansa-Viertel im Siegmunds Hof 21. Ihre drei Kinder entgingen der Schoa durch frühzeitige Emigration.
Spätestens seit 1926 war Bianka Hamburger im Vorstand der Reformgemeinde, dem äußersten Flügel des jüdischen Liberalismus unter dem Dach der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. 1926 schrieb sie: »Wer die Entwicklung der Jüdischen Reformgemeinde zu Berlin in den 80 Jahren ihres Bestehens kennt, wird ohne Verwunderung erfahren, daß diese Gemeinde auch in Bezug auf die Stellung der Frau Pionierarbeit geleistet hat. In ihrem Gotteshause waren die Frauen den Männern stets gleichgestellt: nie gab es dort vergitterte Frauenplätze und besondere Frauengalerien, und soweit es die Raumeinteilung gestattet, wie bei den Festgottesdiensten in den neueren Sälen im Westen sitzen Frauen und Männer, Gatte und Gattin, Eltern und Kinder zusammen. … Bereits vor Jahren ist in dieser Gemeinde das gleiche Wahlrecht eingeführt worden. Ich darf wohl behaupten, daß die Frauen es sich selbst, und zwar auf friedliche Weise, errungen haben...«.
Es muss in ihrem Leben ein besonderes Ereignis gewesen sein, als die Präsidentin der World Union of Progressive Judaism, Lily Montagu, 1928 im völlig überfüllten Tempel der Reformgemeinde in der Johannisstraße predigte. Selbst die Jüdische Rundschau, die den jüdischen Liberalismus als »Bekenntnis der assimilierten Bourgeoisie« bezeichnete, schrieb: »...hier soll Lily Montagu predigen: die erste Frau, die in Deutschland eine jüdische Kanzel besteigt … Die Jüdische Welt weiß, daß hinter jedem dieser Worte eine jüdische Liebestat steht, deren ihr Leben voll ist… Darum auch darf sie diese Predigt wagen, die mit ihren abstrakt ethischen Forderungen wohl darum nicht farblos wird, weil man bei jedem dieser Worte spürt, daß hier ein Mensch von seinem Gotteserlebnis berichtet.«
Die Berliner Gemeindegremien hatten sich 1924 mit den Stimmen der Liberalen und der Volkspartei für die Einführung des Frauenwahlrechts entschieden. Dazu Bianka Hamburger: »Auch innerhalb der Gemeinden setzen fast überall fortschrittliche Bestrebungen ein. Im neuen Repräsentantenkollegium ... werden zum ersten Male Männer und Frauen gemeinsam arbeiten, um vor allem die Not zu lindern, die schlimmer als je zuvor in der Gemeinde herrscht.« Nach den 1926 erfolgten Neuwahlen zogen 1927 erstmals vier Frauen in die Berliner RV ein – Bertha Falkenberg, Bianka Hamburger, Lina Wagner-Tauber und Ernestine Eschelbacher – alles keine Neulinge in öffentlicher Arbeit.
Vorstand und Repräsentanz der Jüdischen Reformgemeinde zu Berlin um 1934. In der ersten Reihe als Dritte von rechts Bianka Hamburger. Aus: Ladwig-Winters
Der bedeutendste Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Deutschland war der 1922 gegründete »Preußische Landesverband Jüdischer Gemeinden (PLV)«, innerjüdisch auch »Judenparlament« genannt: Er repräsentierte Anfang der 1930er Jahre 784 Gemeinden und damit rund 75 Prozent der jüdischen Bevölkerung. In seiner jährlichen Verbandstagung im ehemaligen Preußischen Herrenhaus in der Leipziger Straße (heute Sitz des Bundesrats) schuf der PLV eine demokratische Plattform, auf der neben praktischen Fragen wie der Rabbinerbesoldung, Lehrerausbildung oder Wohlfahrt auch die geistigen Auseinandersetzungen zwischen den jüdischen Strömungen Raum fanden. Beim ersten Verbandstag 1925 waren von den 124 Abgeordneten zehn Frauen. Frau Hamburger schrieb bedauernd dazu, dass leider keine einzige Frau auf der Liste der Konservativen Partei gestanden habe und die Liberalen deren Vertreterinnen vermissten, mit denen sie gerne gemeinsame Arbeit zum Besten der Allgemeinheit geleistet hätten.
Beim nächsten Wahlgang 1930 wurden neun Frauen gewählt – eine davon war Bianka Hamburger. 1931, als die Weltwirtschaftskrise ihren Höhepunkt erreichte, traten diese Frauen, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit, geschlossen an die jüdische Öffentlichkeit heran, um Hilfe für die von Arbeitslosigkeit betroffene weibliche Jugend zu fordern. An die Gemeinden wurde appelliert, für die Ausbildung erwerbsloser Mädchen zu sorgen; gleichzeitig sollten die Gemeinden die staatlichen Behörden dazu bewegen, Mittel für die jüdische Erwerbslosenfürsorge bereitzustellen. Der Antrag wurde einstimmig angenommen.
Frau Hamburger war spätestens seit 1931 auch Vorsitzende der Schulkommission der Reformgemeinde. 1935 wurde die Joseph-Lehmann-Schule (Joachimsthaler Straße 13, s. jb 4/2011) gegründet, 1936 die Samuel-Holdheim-Oberschule in der Nürnberger Straße 66. Im Gegensatz zu den anderen Schulen der Gemeinde, die spätestens ab 1936 ihre Schüler mit Sprach- und Handwerks-Kursen auf die Emigration vorbereiteten, wechselte der Bildungsverein der Reformgemeinde erst 1937 das Lehrprogramm – zuvor hatte man gehofft, das Regime käme zu einem schnellen Ende.
Durch die jüdische Entrechtung und Isolierung bekam die Reformgemeinde eine neue Rolle: War sie ihren Mitgliedern Jahrzehnte lang ein Raum der spezifischen Religionsausübung innerhalb der deutschen Gesellschaft gewesen, wurde sie nun zum Fluchtort. Doch die Lage wurde immer unerträglicher – bald gab es genug Anlass, dem religiös tabuisierten Thema »Selbstmord« 1936 einen ausführlichen Artikel in den Mitteilungen der Reformgemeinde zu widmen. Die Leser erhielten Empfehlungen, wie sie sich bei Niedergeschlagenheit ablenken können, und erfuhren, dass Suizid unter drei Umständen dem »Märtyrertod« gleichgestellt und damit durch die Talmudvorschriften legitimiert sei: Götzendienst, Unkeuschheit und Mord. Mord müsse man nicht an sich erdulden…
Ob und wann Bianka Hamburger ihre Tätigkeit am Jüdischen Krankenhaus beendete, ist nicht bekannt, aber sie blieb auch in Berlin, als die Massenauswanderung der Schwestern und Ärzte begann. Noch 1941 wird sie im Adressbuch als Eigentümerin der Steglitzer Englerallee 6 geführt, aber in diesem Jahr zog keinesfalls zufällig Bürgermeister Treff – glühender Nazi und langjähriges SS-Mitglied – als neuer »Eigentümer« ein. Im Herbst 1941 begannen die Deportationen. Die Arbeit im Jüdischen Krankenhaus stand jetzt völlig unter dem erschütternden Eindruck der vielen Selbstmorde. Ganze Seiten im Aufnahme- und Sterbebuch sind gefüllt mit Suiziden und Selbststötungsversuchen. Während das Personal uneins darüber war, ob es die Patienten retten sollte, war die Haltung der deutschen Justiz klar: Ein Selbstmordversuch war strafbar. Die »Geretteten« wurden auf die Polizeistation verlegt und kamen von dort in die Strafabteile der Deportationszüge.
Bianka Hamburger war 1942 am Vorabend ihrer angeordneten Deportation schneller als ihre Mörder. Sie wurde zwar noch ins Jüdische Krankenhaus eingeliefert, starb dort aber am nächsten Morgen. Ihr Grab befindet sich auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee.
Prof. Dr. Regine Buchheim
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