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»Deutsche Zustände«
01.Februar 2012 | Beiträge – jüdisches berlin | Politik
Das Syndrom »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« und das Ende einer zehnjährigen Studie
Feindselige Mentalitäten sind in den letzten Jahren nicht geringer geworden, mit den Auswirkungen der Finanzkrise wird eher mit einem Anstieg gerechnet – das ist die Essenz aus dem letzten Teil einer auf zehn Jahre angelegten Studie, mit der das Syndrom der »gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« innerhalb der deutschen Gesellschaft untersucht wurde und der im Dezember 2011 erschien. Über zehn Jahre hinweg wurden jedes Jahr etwa 2000 Menschen befragt und über die Ergebnisse wurde jährlich in einem Band des Suhrkampverlags berichtet.
Der Herausgeber der Studie, Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer, Professor für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Sozialisation und Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld, hatte das Projekt 2002 ins Leben gerufen. Zusammen mit seinem Kollegen Prof. Dr. Andreas Zick und einem Forscherteam, sowie mehreren Kooperationspartnern an anderen deutschen Universitäten, entstand die bisher weltweit größte Studie innerhalb der Vorurteilsforschung. Gefördert wurde sie von mehreren Stiftungen, federführend von der Volkswagenstiftung.
Das Syndrom der »gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« bezeichnet nach den Initiatoren die »Abwertung von Menschen aufgrund von ethnischen, kulturellen oder religiösen Merkmalen, der sexuellen Orientierung, des Geschlechts, einer körperlichen Einschränkung oder aus sozialen Gründen. (…) Im Zentrum steht eine Ideologie der Ungleichwertigkeit«. Es wurden zwölf Elemente ausgemacht: Abwertung von Asylbewerbern, Abwertung von Behinderten, Abwertung von Langzeitarbeitslosen, Abwertung von Obdachlosen, Abwertung von Sinti und Roma, Antisemitismus, Etabliertenvorrechte, Fremdenfeindlichkeit, Homophobie, Islamfeindlichkeit, Rassismus und Sexismus. Sie zusammen machten das Syndrom aus, denn die Sozialwissenschaftler gehen davon aus, dass eine dieser Einstellungen nicht für sich allein steht, sondern mit anderen verbunden ist. Es wurde versucht der Frage nachzugehen, was die Ursachen für diese feindseligen Mentalitäten sein könnten.
Wolfgang Thierse, langjähriger Beobachter und Unterstützer der Studie bemerkte bei der Präsentation im Dezember, dass die Studie durch die Ereignisse im Zusammenhang mit den Morden des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (siehe jb 1/2012) eine »brisante Aktualität« hätten. Das zeigte auch das erhöhte Interesse in der Öffentlichkeit an der »Deutsche Zustände«-Studie. Die Untersuchungen zeigten, dass die Probleme nicht durch einzelne Maßnahmen wie etwa ein NPD-Verbot behoben werden könnten, sondern »dass es um tiefere, hintergründige Zustände geht, (...) die Einstellung der Bevölkerung gegenüber ›Anderen‹».
Der letzte Band der Auswertung trägt den vollen Titel »Deutsche Zustände – Das entsicherte Jahrzehnt«. Heitmeyer erläutert, »dass das zurückliegende Jahrzehnt von Entsicherung und Richtungslosigkeit … markiert ist, in dem auch die schwachen sozialen Gruppen … eine Ideologie der Ungleichwertigkeit sowie psychische und physische Verletzungen erfahren haben«. Und Wolfgang Thierse: »Dahinter steht die Beobachtung, dass (…) die Raumgewinne neoliberaler Leitbilder zu einem Kontrollverlust nationalstaatlicher Politik und einer Transformation des ökonomischen Systems, des Arbeitsmarktes und des Sozialstaates geführt haben. Die Ökonomisierung des Sozialen, die ökonomistische Reduktion des Menschen auf seine Rolle als Marktteilnehmer, als Produzent und Konsument, entwertet das Selbstbild des Menschen als eine selbstbestimmte in einer Gemeinschaft für sich und andere verantwortlich handelnde Persönlichkeit. Prekarisierung und Abstieg sind dann auch die wichtigsten Faktoren für die Entstehung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. (…) Daraus wird deutlich, dass Solidarität«, so das Fazit von Wolfgang Thierse, »die elementare Voraussetzung ist für gesellschaftlichen Frieden. Die Voraussetzung dafür, dass Menschen ohne Angst vor Diskriminierung, Abwertung, Abstieg und Ausgrenzung verschiedene sein können«.
Wilhelm Heitmeyer stellte klar, dass die Auswertung der über 2000 angesammelten Seiten Analyse noch nicht abgeschlossen sei. Es sei allerdings schon zu erkennen, dass in den letzten zehn Jahren keine Verbesserung für die betroffenen Menschengruppen zu erkennen sei. Sein vorläufiges Fazit laute, dass in der deutschen Gesellschaft eine »Mentalität der Entsolidarisierung, des Vetrauensverlusts gegenüber dem politischen und ökonomischen Systems und eine gefühlt Machtlosigkeit« herrsche. Dies zersetze die Gesellschaft, und die Politik müsse dieser Form von sozialer Spaltung entgegenwirken.
In Bezug auf den Antisemitismus konnte festgestellt werden, dass er zwar in seiner klassischen Form merklich zurückgegangen ist, aber der sekundäre, israelbezogene Antisemitismus ist nach der Studie heute weiter in der Gesellschaft verbreitet als noch vor zehn Jahren. Auch Fremdenfeindlichkeit und Rassismus hätten zugenommen. Jeder fünfte Befragte halte die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele für legitim.
Eins der zwölf Elemente der »Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« ist für Heitmeyer und sein Forscherteam die »Islamfeindlichkeit« oder »Islamophobie« (im Buch findet sich wahlweise auch der Begriff der »Islamkritik«). Über die Frage, in wie weit es sich bei der »Islamophobie« um ein Vorurteil handelt, war in den letzten Jahren eine Debatte ausgebrochen. »Dieser Begriff ist problematisch, weil er zwei unterschiedliche Phänomene vermengt und gleichermaßen an den Pranger stellt: den menschenverachtenden Rassismus gegen Muslime und die notwendige Kritik an der islamistischen Tendenz«, schreibt etwa der Sozialwissenschaftler Matthias Küntzel.
Ob die Studie fortgesetzt werden wird, ist unklar. Wilhelm Krull von der Volkswagenstiftung machte sein Bedauern über ihr Ende deutlich. Denn es gäbe noch weiteren Klärungsbedarf, auch über Deutschland hinaus. Auch Wolfgang Thierse wünschte sich, dass Heitmeyer und seine Mitstreiter ihr Engagement fortsetzen können. Er bedankte sich bei Prof. Heitmeyer »für die engagierte Kontinuität, die beharrliche Aufmerksamkeit«, mit der er »den problematischen Teil gesellschaftlicher Entwicklungen beobachtet, analysiert und Vorschläge gemacht« hat.
Hannah Magin, Levi Salomon
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