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Detektivarbeit
02.Mai 2012 | Beiträge – jüdisches berlin | Gedenken
Ein Buch über Grenzen und Möglichkeiten der jüdischen Genealogie und Familienforschung
Oft erst mit dem Internet, der Öffnung und Digitalisierung von Archiven sind Nachgeborene heute in der Lage, ihrer Herkunft oder dem Verbleib ihrer Angehörigen weltweit nachzuspüren. Hier fündig zu werden bringt meist neue Fragen und traurige Gewissheiten mit sich, hier und da aber auch Neuigkeiten, die wichtig für das eigene Leben und die Identität der Suchenden sind
Das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen hat im Nachgang zweier Tagungen einen Band mit inspirierenden Beiträgen herausgebracht, in denen es von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart um all die Puzzleteile geht, die für eine realitätsnahe jüdische Genealogie eine Rolle spielen.
Generell ist die Quellenlage für die christliche Bevölkerung deutlich besser, auch wenn Abstammung und Genealogie im Judentum historisch eine hohe Bedeutung haben. Schon in Bereschit (5,1) ist von »se sefer toldot adam« die Rede, vom »Buch der Geschichte Adams«, auch als »Buch der Zeugungen des Menschen« zu verstehen. Diese Toldot dienten von Beginn an auch dazu, Macht- und Herrschaftsansprüche zu legitimieren, so für die Nachkommen Aarons und Davids, also die Priester und Könige. Familienrechtliche Verträge, wie die Heiratsverträge, Ketubbot, sind ebenfalls seit der Antike gebräuchlich. Genealogisch sind sie oft aber wenig aussagekräftig, da sie nicht den Geburts-, sondern den Ort der Eheschließung und außer den Verpflichtungen des Ehemannes seiner Frau gegenüber und einen meist standardisierten Text keine verwertbaren Angaben enthalten. Aufschlussreicher sind die Tena’im, Heiratsverträge mit realen Summen und Mitgiften, die im Mittelalter aufkamen und oft detaillierte Auskunft zu Familien- und Vermögensverhältnissen geben (mehr als drei Generationen konnte solch ein Vertrag aber auch nicht erfassen). Der Idealfall, dass ganze Vertragsbündel überliefert sind, aus denen sich Generationenfolge(n) und Querverbindungen ableiten lassen, tritt äußerst selten auf. Daher ist die Zeit vor dem Einsetzen des staatlichen Urkundenwesens weder genealogisch oder familienkundlich noch sozialgeschichtlich befriedigend zu erforschen.
Der Mangel an überliefertem Schriftgut hat aber weitere Gründe. Peter Honigmann vom Heidelberger Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland beschreibt, wie in vorigen Jahrhunderten auch innerjüdisch wenig Wert auf den Erhalt von Gemeindeakten gelegt wurde. Hinzu käme der Umstand, dass »das Volk, das ständig die Schrift mit sich herumträgt, sehr zurückhaltend ist, wenn es darum geht, Ereignisse schriftlich festzuhalten.« Schon der Talmud spricht davon, wie mühevoll es sei, Dokumente längerfristig »vor den Mäusen zu schützen«, und schon Raschi schrieb: »Länger [hier: als drei Jahre] pflegen Menschen nicht auf Dokumente acht zu geben.«
Die Vorformen eines jüdischen Personenstandswesens entstanden also nur unsystematisch. In MohelBüchern, den Aufzeichnungen der Beschneider, finden sich zwar Geburtsdaten, aber nicht alle und natürlich nur die der Knaben. Alte Grabsteine wiederum enthalten meist nur das Sterbedatum (um die Jahrzeit begehen zu können), und selbst der Sterbeort bleibt ungewiss, da viele kleine Gemeinden über keinen eigenen Friedhof verfügten. Oft wurde aber nicht einmal ein Grabstein gesetzt, so bei Kindern oder in Kriegszeiten, oder er wurde später zerstört. Also auch hier: Glückssache (und eine Sisyphusarbeit). Genau wie bei den Memorbüchern, in die verdiente Gemeindemitglieder eingetragen wurden, oder den Mappot, den Stoffbändern mit den Namen und Geburtsdaten der Knaben, die in manchen Gegenden um die Torarollen gewickelt wurden.
Personenstandsdaten wurden innerjüdisch also nur unsystematisch festgehalten. Wenn überhaupt, kam eine Buchführung auf Drängen von staatlicher Seite zustande. Das betrifft die Praxis der Schutzbrief- und Passierscheinerteilung für Juden und die Festsetzung von Steuern und Abgaben (wie die Zwangskäufe von Porzellan). In Berlin beispielsweise wurde 1737 die Zahl der Juden auf genau 120 Familien, die der Bediensteten auf genau 250 Personen festgelegt. Darüber mussten Listen geführt und deren Konstanz ständig vermeldet werden, mit dem Ergebnis, dass Bedienten einfach vorgeschrieben wurde, nicht zu heiraten oder ein Vater seine Kinder in eine andere Stadt schicken musste. Honigmann spitzt daher zu: »Da, wo jüdisches Leben anfängt aktenkundig zu werden, hört es auf stattzufinden.«
Ein nächstes Problem besteht darin, dass auch Forschern oft Kenntnisse der Sprache und Schrift fehlen, in denen sich Juden in früheren Jahrhunderten ausdrückten, wie Wilfrid Reininghaus konstatiert, und dass ihre häufige Migration und überregionale Vernetzung lokalhistorische Forschungen erschwert, da die Archive regional organisiert sind. Zudem erhielten Juden in der Regel erst nach 1800 feste Nachnamen, Familienverbände können also nicht anhand der (gleichen) Namen identifiziert werden, zumal allenfalls Haushalte erfasst wurden. Änderungen traten hier erst nach dem Ende des Ancien Régimes ein, als man – wie bei christlichen Kirchenbüchern – begann, auch bei Juden Personenstandsfälle individuell zu registrieren (Standesämter gibt es erst seit 1874/75).
All dies führt zu der heutigen komplexen und komplizierten Quellenlage, auch wenn das 19. und 20. Jahrhundert quellenreicher sind. Dass Daten in Diktaturen missbraucht werden, hat die NS-Diktatur in perfidester Weise vorgeführt. Die Gestapo, die Gerichte oder das Reichssippenamt (hier lagerten 1937 schon 1 300 000 Karten) haben in großen Mengen Daten gesammelt, zur Identifizierung von Juden oder für »Ariernachweise«. Diese Bestände werden bei heutiger Nutzung oft aber nicht auf die damaligen Zwecke hin befragt, oder sie sind auseinandergerissen, zerstreut oder zerstört. Dies erschwert die Forschung und auch die Aufarbeitung jüdischer (Familien-)Geschichte(n).
Daher werden in fast detektivischer Manier weitere Quellen herangezogen – wie topografische Flurnamen zur Ortsbestimmung (Judenberg, -gasse) oder historische Zeitungen. Dank »Compactmemory« sind die wichtigsten Periodika – wie »Sulamith« (1806–1848), die »Allgemeine Zeitung des Judentums« (1839–1922) oder das »Israelitische Familienblatt« (1898–1938) – inzwischen online einsehbar (www.compactmemory.de). Das Steinheim-Institut ist mit seinem digitalen Textarchiv »epidat« wiederum Vorreiter bei der Epigrafik, der Erfassung von jüdischen Friedhöfen (www.steinheim-institut.de/cgi-bin/epidat), hier sind bereits über 22 000 Grabinschriften und damit wertvolle Quellen erfasst. Daneben gibt es regionale Datenbanken wie für Brandenburg (www.uni-potsdam.de/juedische-friedhoefe).
In Bezug auf die jüngere Zeit, nämlich vor allem die Opfer der Schoa, ist ebenfalls sehr viel Material inzwischen im Internet zugänglich und wird dort ständig ergänzt, so die Gedenkbücher des Bundesarchivs (auch die Berliner Gedenkbücher), Daten für das Ghetto Theresienstadt (www.holocaust.cz/cz2/victims), das Ghetto Litzmannstadt (www.jewishgen.org/databases/Holocaust) sowie bruchstückhaft für Auschwitz (en.auschwitz.org.pl).
Manch einer wird bei der Suche aber auch hier fündig: In der Sammlung der Deutschen Nationalbibliothek (http://deposit.d-nb.de/online/jued/jued.htm) lässt sich nicht nur das Gmeindeblatt aus den 1920er Jahren sondern auch das einzige ab 1938 noch zugelassene Jüdische Nachrichtenblatt Berlin (1938–1943) aufrufen, das auch viele Familiennachrichten enthält. Das Archiv des »Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischer Glaubens« (mit den Akten von Verbänden und Vereinen), das sich heute in Moskau befindet, kann in Mikrofilmen auch in den Central Archives in Jerusalem eingesehen werden. Dort lagern auch Akten des Berliner »Gesamtarchivs der deutschen Juden«, der andere Teil liegt im Bundesarchiv. Das Archiv des Leo-Baeck-Instituts, mit der größten Sammlung zur Geschichte der Juden im deutschsprachigen Raum, befindet sich in Mikrofiche-Form größtenteils auch im Jüdischen Museum Berlin. Das Geheime Staatsarchiv in Berlin besitzt wiederum die Bestände der brandenburgisch-preußischen Zentralbehörden. Die Akten des Internationalen Suchdienstes in Arolsen zu deportierten Juden sind seit 2006 geöffnet, und natürlich verfügt auch Yad Vashem über ein gr0ßes Archiv zu diesem Personenkreis. Beinahe noch schwieriger aber ist es, Daten zu Überlebenden zu finden. Sie wurden nirgends systematisch erfasst. Einer der Buchautoren, Fritz Neubauer, nennt hier als Tipp die New Yorker Exilzeitung »Aufbau« (1939–2004), die Familien- und Suchanzeigen und Überlebendenlisten abdruckte und online durchsuchbar ist (www.calzareth.com/aufbau/index.html), und die Liste der nach Shanghai geflüchteten Juden (http://genealogyindexer.org/forum/viewtopic.php?t=555).
Wer selbst auf der Suche ist, findet auf der Internetseite der Archivschule Marburg alle Archive weltweit, die auch im Internet vertreten sind (www.archivschule.de).
Judith Kessler
_Bettina Joergens (Hg.): »Jüdische Genealogie im Archiv, in der Forschung und digital. Quellenkunde und Erinnerung«. Klartext, Essen 2011, 230 S., 24,95
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