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Der rasende Zug
01.September 2017 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage
Gedanken zu Rosch Haschana von Gemeinderabbiner Boris Ronis
Wenn ich mein Jahr Revue passieren lasse, dann habe ich immer die Vorstellung einer Zugfahrt, einer wirklich schnellen Zugfahrt vor Augen. Alles scheint auf dieser Jahres-Zug-Reise geregelt zu sein, so schnell wie der Zug nun einmal fährt, auch schnell zu passieren. So rase ich von Ziel zu Ziel, von Ort zu Ort. Manchmal habe ich das Gefühl, nicht immer alles richtig gemacht zu haben. Von Manchem weiß ich, dass ich es nicht richtiggemacht habe, bei anderen Dingen ist dies aber auch nur ein Gefühl. Nicht alles zu meiner Zufriedenheit erledigt oder vollendet zu haben, würde ich als »menschlich« bezeichnen. Menschen machen nun mal Fehler. Und plötzlich steht man vor Rosch Haschana und stellt fest: Es ist schon wieder ein neues Jahr vergangen! Mein Zug fährt mir eindeutig zu schnell!
Neujahr zu feiern ist aber auch immer etwas Schönes. Man setzt sich mit seinen Lieben, mit seinen Freunden an einen Tisch und isst und trinkt und freut sich des Lebens. Vorbei ist das alte Jahr, das neue beginnt. Doch bevor es soweit ist, feiern wir zusammen und erhoffen uns die Erfüllung der besten und schönsten Wünsche fürs neue Jahr, mit all seinen Vorsätzen und Aussichten. Ist es aber damit getan?
Die Summe der Dinge, die sich angehäuft haben, die unerledigt zu sein scheinen, scheint immer größer zu werden. Und so versuchen wir manchmal verzweifelt, nicht nur die Dinge unter den Teppich zu kehren, sondern sie auch tatsächlich zu erledigen. Doch wie? Wie kehre ich zu mir zurück? Vielleicht hilft uns hier ein kurzer Middrasch weiter: Rabbi Jehoschua ben Karcha sagt: »40 Tage habe Mosche auf dem Berg verbracht – er hat die Lehre der Schrift am Tage gelesen und sie in der Nacht begutachtet. Und nach 40 Tagen nahm er die zwei Tafeln und ging in das Lager hinunter. Am 17. Tammus brach er die Tafeln und tötete die Spötter Israels. Danach verbrachte er 40 Tage im Lager, bis er das golden Kalb verbrannt und zermalmt hat, so dass es wie der Staub der Erde war. Und er tötete alle, die das Kalb geküsst haben, bis der Götzendienst aus Israel ausgelöscht war; danach setzte er alle Stämme zurück an ihren Platz«. An Rosch Chodesch Elul (Anfang des Monats), hat der Heilige, gelobt sei Er, zu ihm gesagt (Exodus 24:12): »Komm zu Mir auf den Berg hinauf.« Und sie bliesen das Schofar (Widderhorn) im Lager – da Mosche auf den Berg gegangen war, so dass sie nicht wieder abweichen und Götzendienst nacheifern. Und der Heilige, gelobt sei Er, wurde mit dem Schofar an diesem Tag erhaben, wie es angegeben ist im Psalm 47:6: »Gott ist durch das Schofar erhaben«. Und deshalb verordnen die Weisen, dass wir in jedem Jahr das Schofar zu Rosch Chodesch Elul blasen.
Es ist also ein Weckruf durch das Schofar nötig, um innezuhalten, um sich umzusehen, um für einen Augenblick die Ruhe des Himmels in seinem Herzen zu suchen. Wenn wir an Rosch Haschana also das Schofar hören, dann versetzen wir uns in den geistigen Zustand der Reue, mit dem Wunsch nach innerer Umkehr.
Das Ganze kann man sich vorstellen wie der Samen, der in die Erde gepflanzt wird. Aus ihm soll einmal ein großer Baum werden. Dazu benötigt man Zeit und Geduld. Und hier spielt unsere Vorstellung immer eine gewisse Rolle: Manche von uns stellen sich den Baum immer etwas anders vor. Doch Fakt ist: Jeder von uns ist ein anderer Baum. Pflanzen wir eine Eiche, dann kann auch nur eine Eiche wachsen. Pflanzen wir einen Apfelbaum, dann kann daraus auch nur ein Apfelbaum entstehen.
Die Frage ist also immer: Was erwarte ich und was bekomme ich? Deshalb ist zu unserem Neujahrsfest ein wenig Ehrlichkeit uns selbst gegenüber eine der wichtigsten Fundamente. Darauf baue ich alles auf, daraus entwickelt sich mein neues Jahr, meine Beziehung zu anderen Menschen, zu mir selbst und zu Gott.
Mit dem Schofar stimmen wir uns also ein auf ein hörendes Herz und eine reuevolle Seele. Mehr braucht es für den Augenblick zu Rosch Haschana erst einmal nicht, um sich selbst wieder ein wenig zu justieren für ein schönes und besseres 5778.
Schana Towa alle zusammen!
jüdisches berlin
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