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»Der eine hat einen Nutzen, der andere keinen Schaden«
01.September 2009 | Beiträge – jüdisches berlin | Religion
Tovia Ben-Chorin mit Überlegungen zu Jom Kippur
Das erste Jahr meiner Arbeit in der Berliner Gemeinde ist vorüber. In den vielen Gemeinden, die ich auf meinen Reisen in der Welt kennengelernt habe, und in den Gemeinden, in denen ich gearbeitet habe, habe ich immer ein Selbstbewusstsein vorgefunden, das besagt: »Wir sind eine besondere Gemeinde, der keine zweite gleicht.«
Vielleicht kann man über die Besonderheiten der Berliner Gemeinde folgendes sagen: Erstens gibt es unterhalb der Führungsebene, unter den Laien mindestens sieben Synagogen (von den anderen Institutionen – Schulen, Senioren- und Gemeindezentrum, Friedhöfe usw. – gar nicht zu reden). Dieser Zentralismus und das Prinzip der Einheitsgemeinde hat Vorteile und Nachteile.
Aber eines weiß ich besonders wertzuschätzen: Weil die Laien die oberste Autorität sind – und nicht die Rabbiner –, kann das jüdische Leben mit seinen vielen Facetten unter einem Dach bewahrt werden. So etwas gibt es in keiner jüdischen Gemeinde der Welt und sicherlich auch nicht in Israel. Auf diese Art und Weise ist die Berliner Gemeinde ein Beispiel dafür, wie unterschiedliche religiöse Richtungen zusammenarbeiten können, ohne dass der eine dem anderen seine Weltanschauung aufdrängt.
Es gibt aber eine zweite Besonderheit, die mich als Rabbiner beunruhigt. In unserer Gemeinde arbeiten 380 Angestellte, die für die Berliner Juden, vor allem für diejenigen, die als Mitglieder eingeschrieben sind, tätig sein sollen. Würden sich doch die Kräfte finden, um damit zu beginnen, diejenigen Jüdinnen und Juden zu unserer Gemeinde zurückzuführen, die aus ihr ausgetreten sind oder aus unterschiedlichen Gründen keinen Platz in ihr gefunden haben.
So sind Jüdinnen und Juden aus der früheren Sowjetunion nach Berlin gekommen. Als Juden sind sie hier angekommen. Nicht den Nichtjuden obliegt es festzustellen, wer ein Jude ist, sondern das jüdische Volk selbst muss das tun. Wer als Jude hergekommen ist und vom deutschen Staat als Jude akzeptiert wurde, zu dem müssen wir einen Weg finden, um ihm die Eingliederung zu erleichtern – wenn er oder sie dies will; wir werden es niemandem aufzwingen. Doch plötzlich wird einem solchen Menschen gesagt: »Du bist gar kein Jude, und deshalb bleibe draußen.« Es tut weh, so etwas zu hören. Und wenn dann jemand kommt und mir sagt, so war es aber nicht, so ist doch die Tatsache, dass mein Gesprächspartner diesen Eindruck hatte, für mich bereits ein ausreichender Grund, um tätig zu werden. Und es ist dann kein Wunder, wenn Einwanderer abstoßende Bemerkungen machen über die Alteingesessenen.
Ich komme nicht mit Vorschlägen und großen Plänen zur Veränderung unserer Gesellschaft. Aber als Rabbiner bin ich besorgt angesichts der Spannungen, die ich unter den Gemeindeangestellten spüre. Sie sind wie die Leviten, die im Tempel ihren Dienst taten und einerseits den Priestern, anderseits dem ganzen jüdischen Volk halfen. Oft wird die Arbeit der Mitarbeiter nicht genug geschätzt und als selbstverständlich angesehen. Und doch: Wenn wir nicht als Team zusammenarbeiten können, mit dem Gefühl, dass wir dem jüdischen Volk, den Berliner Juden, dienen und dass unsere Existenz einen Wert hat – nicht nur als Schutz vor dem Antisemitismus, sondern weil die Welt ohne unser Dasein ärmer und farbloser wäre –, so bleiben wir unter dem Druck der Kleinlichkeiten und der gegenseitigen Vorwürfe gefangen. Wir müssen die Wahrheit sagen: Eine große Gemeinde mit den Besonderheiten einer Einheitsgemeinde braucht diesen Stab von Mitarbeitern. Die Führung braucht Eure Hilfe. Die Gemeindemitglieder brauchen Euch. Worum bitte ich dabei eigentlich? Darum, dass einer dem anderen zuhöre!
Wenn ein Zuwanderer beispielsweise »explodiert« und sich auf unschöne Weise äußert, so ist das ein Zeichen dafür, dass er bereits gestresst angekommen ist. Vielen fällt es schwer, mit der Welt der deutschen Bürokratie zurechtzukommen. Jeder hat vor Bürokratie Angst, vor allem in einem fremden Land. Wer aus einer Diktatur kommt, sieht in jedem Beamten, jedem Abteilungsleiter einen Menschen, der über ihn herrschen will, dem gegenüber man misstrauisch sein muss, dem man nicht glauben darf.
Solche Gefühle können wir nicht einfach verdrängen. Wir brauchen viel Geduld. Interessanterweise heißt es in der Tora über den Versöhnungstag: »Ein feierlicher Sabbat soll es Euch sein, und Ihr sollt fasten« (3. Buch Mose 23,32). Der Versöhnungstag gilt in erster Linie dem Menschen. Nur die jüdische Glaubensweise geht davon aus – im Gegensatz zu allen Zynikern um uns herum –, dass der Mensch seine Fehler erkennen und sich ändern kann. Die wahre Versöhnung hängt nicht mit der Gebetsformel zusammen, die Gott am Versöhnungstag dargebracht wird, sondern damit, wie sich das Verhältnis zum Mitmenschen ändert.
Meine Lieben, ich bin neu hier. Gebt mir doch die Gelegenheit, mehr Menschen zu sehen, die einander anlächeln und ein freundliches Gesicht machen, die Geduld miteinander haben, die die Tatsache anerkennen, dass wir in unseren Lebenserfahrungen vielleicht reicher sind, weil es unter uns Menschen gibt, die in ihren Anschauungen unterschiedlich sind. Lasst uns doch von der Annahme ausgehen, dass jeder von uns nach dem Bilde Gottes erschaffen worden ist. Das Ziel des Versöhnungstages ist es, den göttlichen Funken in uns zu reinigen von den Schalen, die ihn bedeckt haben.
Ein Jahr der Hartherzigkeit und Sturheit soll zu Ende gehen.
Ein neues Jahr des Lächelns soll beginnen.
Wenn wir uns zuhören, geduldig miteinander sind und versuchen, den Standpunkt des anderen zu verstehen, können wir die Atmosphäre in unserer jüdischen Gemeinde verbessern. Wenn wir das versuchen, glauben Sie mir, wird der eine einen Nutzen und der anderen keinen Schaden haben. Derjenige, der empfängt, wird einen Nutzen haben, und derjenige, der gibt, wird keinen Schaden leiden.
Ein gutes Neues Jahr der Gemeindeleitung, dem Team der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und
allen Gemeindemitgliedern!
Mit einem liebenden Herzen
Euer Rabbiner Tovia Ben-Chorin
jüdisches berlin
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