Beitragssuche
Der Anfang vom Ende
03.November 2011 | Beiträge – jüdisches berlin | Gedenken, Orte
Der Pogrom von Kielce – zum 65. Jahrestag
Simon Wiesenthals »Jeder Tag ein Gedenktag. Chronik jüdischen Leidens« von 1988 bezeugt, dass es Juden an bitteren Jahrestagen nicht mangelt. Einer von ihnen, gemahnend an den Pogrom von Kielce, bei dem 42 jüdische Überlebende der Schoa und zwei Nichtjuden, die sie schützen wollten, bestialisch ermordet und mehrere Dutzend weitere Überlebende zum Teil schwer verletzt wurden, jährte sich kürzlich zum 65. Mal. Für polnische Juden, aber nicht nur für sie, bedeutete dieser Pogrom einen Wendepunkt und den Anfang vom Ende der tausendjährigen Geschichte der Juden in Polen.
Heute geht man von etwa 240 000 polnischen Juden aus, die den Krieg überlebten und sich eine neue Zukunft in ihren Heimatorten aufbauen wollten. Dort, wo vor dem Krieg 3,5 Millionen Juden gelebt hatten, waren die Heimkehrer aber nach dem Krieg selten gern gesehen, da man sich längst ihrer Habe und Häuser bemächtigt hatte. Und so gab es allein von Juni bis Dezember 1945 in Polen 30 antijüdische Vorkommnisse, darunter am 12. Juni 1945 Ausschreitungen in Rzeszów, bei denen es, trotz der Behördengleichgültigkeit, zum Glück keine Todesopfer gab, oder am 11. August 1945 den Pogrom in Krakau mit einem Todesopfer und fünf Verletzten, bei dem die Polizei ebenfalls nicht einschreiten wollte. Zahlreiche Juden wurden in der ersten Nachkriegszeit von marodierenden Polen aus den Eisenbahnzügen geholt und verprügelt, etliche von ihnen ermordet. In diesen Jahren, als das stalinistische Regime mit dem bewaffneten Widerstand des antikommunistischen Untergrunds konfrontiert wurde, gerieten Juden, wie so oft, zwischen die Fronten, ob als angebliche Kommunisten, Zionisten oder – wie der traditionell antisemitisch eingestellte katholische Klerus Polens es dem Volk oft eintrichterte – als Antichristen. So konnte auch die Mär, die dem Pogrom von Kielce, wo vor dem Krieg 22 000 Juden gelebt hatten, zugrunde lag, schnell zu Judenmord führen. Begonnen hat alles am 1. Juli 1946, als ein neunjähriger Junge aus Kielce ohne Wissen seiner Eltern in ein 25 Kilometer entferntes Dorf aufbrach, um Freunde der Familie zu besuchen. Sein Vater meldete ihn als vermisst und als das Kind zwei Tage später nach Hause zurückkehrte, erzählte es den Eltern und Nachbarn ein Horrormärchen von einem angeblichen Fremden, der kein Polnisch sprach und ihn in einem Keller festgehalten hatte. Der Verdacht fiel sofort auf die Bewohner des sogenannten »Judenhauses« in der Plantystraße. Dass das Haus gar keinen Keller hatte und das Kind unversehrt war, störte niemanden und die Ritualmordlegende machte schnell die Runde, zumal das Kind seinen angeblichen Entführer identifizierte. Daraufhin fiel am 4. Juli der Mob, flankiert von bewaffneten Soldaten und Polizisten, mehrere Stunden lang über Frauen, Neugeborene und alte Männer her, erschlug oder erschoss sie. Die Verletzten prügelte und beraubte man noch auf dem Transport ins Krankenhaus. Mehrere Prozesse blieben meist ohne Folgen; bis heute kennt man, auch wegen vernichteter Archivunterlagen, die Urheber des Pogroms nicht.
Lange verschwiegen, wurde der Pogrom von Kielce, dem eine große Auswanderungswelle von etwa 120 000 Juden aus Polen folgte, erst nach der Perestrojka von der polnischen Politik und Historikerzunft wahrgenommen. Heute gibt es Gedenkfeiern zu runden Jahrestagen, die aber häufig von antisemitischen Kommentaren begleitet sind. So bleibt ein Schatten auf den jüdisch-polnischen Beziehungen, den man auch in bitteren Klageliedern jiddischer Dichter findet, die damals Polen verließen – ob bei Rajzel Zychlinska, Abraham Sutzkever, Chaim Grade oder Shmerke Ktscherginsky.
Elvira Grözinger
jüdisches berlin
2012_24 Alle Ausgaben
- Dezember 2024
- November 2024
- Oktober 2024
- September 2024
- Juni 2024
- Mai 2024
- April 2024
- März 2024
- Februar 2024
- Januar 2024
- Dezember 2023
- November 2023
- Oktober 2023
- September 2023
- Juni 2023
- Mai 2023
- April 2023
- März 2023
- Februar 2023
- Januar 2023
- Dezember 2022
- November 2022
- Oktober 2022
- September 2022
- Juni 2022
- Mai 2022
- April 2022
- März 2022
- Februar 2022
- Dezember 2021
- November 2021
- Oktober 2021
- September 2021
- Juni 2021
- Mai 2021
- April 2021
- Januar 2018
- März 2021
- Februar 2021
- Mai 2020
- Januar 2021
- Dezember 2020
- November 2020
- September 2020
- Oktober 2020
- Juni 2020
- April 2020
- März 2020
- Februar 2020
- Januar 2020
- September 2019
- November 2019
- Juni 2019
- Mai 2019
- April 2019
- März 2019
- Februar 2019
- Dezember 2018
- Januar 2019
- Mai 2015
- November 2018
- Oktober 2018
- September 2018
- Juni 2018
- Mai 2018
- April 2015
- März 2015
- März 2018
- Februar 2017
- Februar 2018
- fileadmin/redaktion/jb197_okt2017.pdf
- September 2017
- Juni 2017
- April 2017
- November 2017
- Januar 2017
- Dezember 2016
- November 2016
- Oktober 2016
- September 2016
- Juni 2016
- Mai 2016
- April 2016
- März 2016
- Februar 2016
- Januar 2016
- Dezember 2017
- Dezember 2015
- November 2015
- September 2015
- Juni 2015
- Oktober 2015
- Februar 2015
- Januar 2015
- Dezember 2014
- November 2014
- Januar 2022
- Oktober 2014
- September 2014
- Juni 2014
- Mai 2014
- März 2014
- Februar 2014
- Januar 2014
- Dezember 2013
- November 2013
- Oktober 2013
- Juni 2013
- Mai 2013
- April 2013
- März 2013
- Februar 2013
- Januar 2013
- Dezember 2012
- November 2012
- Oktober 2012
- September 2012
- Juni 2012
- Mai 2012
- April 2012
- März 2012
- Februar 2012
- Januar 2012