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»Das Verhängnis der Mark Brandenburg«
01.Juni 2010 | Beiträge – jüdisches berlin | jüdisches berlin, Orte
Eine Ausstellung über den Berliner Hostienschändungsprozess von 1510 und seine Folgen
Am Freitag, dem 19. Juli 1510, zwei Tage nach Tischa Be’aw, wurden am Ort des heutigen Strausberger Platzes 38 Juden auf einem dreistöckigen Scheiterhaufen verbrannt – unter begeisterter Teilnahme der Berliner Bevölkerung und nach einem Hostienschändungsprozess, der in ganz Europa Aufsehen erregte und zur Vertreibung aller übrigen Juden aus Brandenburg führte. Daran will eine Ausstellung in der Zitadelle Spandau (Eröffnung 20. Juni 12 Uhr) erinnern, in deren Gemäuer die damals konfiszierten Grabsteine verbaut worden waren und wo man sie in den 1950er Jahren wiederentdeckte. Der älteste stammt von 1244, dem Jahr, in dem Berlin zum ersten Mal urkundlich erwähnt wird.
Juden hatten Brandenburg als Händler (für Leder, Metalle, Wachs, Honig, Pferde, Sklaven) und Finanziers mit aufgebaut und in dem abgelegenen Winkel des Deutschen Reiches vergleichsweise gut und friedlich gelebt. Man fand sie in der ganzen Mark; in der Stadt Brandenburg (die 1323 und 1335 ausdrücklich um das Privileg zur Aufnahme von Juden gebeten hatte), in Gardelegen, Kyritz, Lenzen, Nauen, Osterburg (das einen eigenen Rabbiner besaß), Perleberg, Pritzwalk, Seehausen, Stendal (wo der größte jüdische Steuerzahler Brandenburgs wohnte), Tangermünde, Werben und Wusterhausen, ebenso wie in Berlin selbst. Reich waren wohl die wenigsten, aber sie hatten ein Auskommen, als Angestellte der Reichen, als Kleinkreditgeber (»Wucherer«) und als Krämer (die versetzte Pfänder unter den kartellrechtlich festgelegten Zunftpreisen anboten). Und sie waren gute, oder genauer, besonders belastete Steuerzahler, die für ein knappes Drittel des gesamten Staatshaushalts aufkamen. Allerdings zahlten sie – an ihren Wohnorten vorbei – direkt an den Fürsten, womit sie sich die Feindschaft der im »Steuerbewilligungsrat« vertretenen Bevölkerungsgruppen zuzogen, der Geistlichkeit, des Adels und der »Stände« (Stadtbürger), die dadurch ihren Einfluss verringert sahen und oft genug selber Schulden bei Juden hatten.
Dennoch hatten sie allen Grund, sich in Brandenburg zu Hause zu fühlen; erst 1509 hatten sie gegen Zusicherung einer entsprechenden Steuerleistung ein neues fürstliches Privileg erhalten, das ein eigenständiges jüdisches Leben garantierte, unter einem ebenfalls bewilligten Oberrabbiner, samt Mikwe, dem Recht auf Schächtung von Vieh und der (für eine wirtschaftliche Ernährung) unabdingbaren Erlaubnis zum Weiterverkauf der nichtkoscheren Fleischteile an die christliche Bevölkerung.
Wie labil das Gleichgewicht war, auf dem sie ihre Existenz gegründet hatten, wurde im Juni 1510 offenbar, als die Festnahme eines christlichen Kirchendiebs genügte, ihnen den Schutz des Fürsten zu entziehen und sie, in vollster Bedeutung des Wortes, der Staatsgewalt auszuliefern.
Was Juden betraf wurde das europäische Mittelalter von zwei Wahnvorstellungen beherrscht: die eine, sehr alte, betraf die Beziehung von Mazze und Christenblut, den Glauben, dass Juden insgeheim Christenkinder schlachteten, um Mazze herzustellen und /
oder sich von »geheimen« jüdischen Krankheiten zu befreien; die andere – damit verwandt, aber deutlich jünger – die Überzeugung, dass Juden als vermeintliche Gottesmörder eine zwanghafte Neigung hätten, geweihte Hostien – die für Christen den Leib Christi darstellen – zu quälen. Wobei die geweihten Hostien, wunderbarerweise, stets zu bluten pflegten, aber sonst unversehrt blieben. Da das damalige Recht den Einsatz der Folter erlaubte, und zwar so lange, bis ein »freiwilliges« Geständnis im Sinne der Anklage vorlag, pflegte ein Präzedenzfall den anderen nach sich zu ziehen.
So auch hier. Ein möglicher jüdischer Abnehmer für die vom christlichen Dieb gestohlene Hostie ist bald gefunden, sein Geständnis bereits am nächsten Tag mit Hilfe des Henkers ermittelt. Das reicht, um alle übrigen männlichen Brandenburger Juden zu verhaften. Da man dennoch nur 36 von ihnen wegen vermeintlicher Hostienschändung anklagen kann, wird die Beschuldigung kurzerhand um den Punkt »Kindesmord zwecks Christenblutgewinnung« erweitert – wobei man von anonymen Kindern ausgeht, die unbekannten Durchreisenden abgekauft wurden. Damit können 51 Juden angeklagt werden (darunter die wichtigsten Steuerzahler), von denen bei Prozessbeginn, drei Wochen später, noch 41 am Leben sind. Drei lassen sich taufen und erhalten mildere Strafen (zwei werden geköpft, der dritte, ein bekannter Augenarzt, diskret begnadigt), die anderen 38 zum Feuertod verurteilt. Sie haben, wie wir aus Augenzeugenberichten wissen, gemeinsam laut gebetet und »mit großer bestendigkeyt den todt gelitten, den pawvelligen [pöbeligen] Christenn zcu sundern erschrecken«. Die übrigen Brandenburger Juden werden enteignet und aus dem Land gewiesen, ihre Friedhöfe eingeebnet und die Grabsteine zweckentfremdet.
Doch 29 Jahre später, 1539, geschah etwas, das den Berliner Prozess von vielen anderen der Zeit unterscheidet: Er wurde als Justizirrtum bloßgestellt – und zwar von christlicher Seite. Von Philipp Melanchthon, der rechten Hand Luthers, auf dem »Fürstentag« in Frankfurt am Main, wahrscheinlich im Sinne einer Spitze gegen die anwesenden Katholiken. Der christliche Kirchendieb hatte dem jungen Priester, der ihm die letzte Beichte abnahm, nämlich gestanden, sich das mit den Juden nur ausgedacht zu haben – worauf der Geistliche umgehend zu seinem Bischof geeilt war, um die anstehende Hinrichtung der unschuldigen Juden zu verhindern. Jedoch nur, um von seinem Vorgesetzten Stillschweigen auferlegt zu bekommen, an das er sich hielt, bis er im Zuge der Reformation protestantischer Pfarrer wurde und nach Süddeutschland zog. Melanchthon tut dies in Anwesenheit des neuen Kurfürsten von Brandenburg, Joachim II.,– und von Josel von Rosheim, des frei gewählten Interessenvertreters oder, wie er es selber ausdrückte, »Regierers« der deutschen Judenheit, der die Berliner Ereignisse im Rückblick als »Verhängnis der Mark Brandenburg«* bezeichnet hatte. Nicht nur, dass Rosheim daraufhin vom Brandenburger Fürsten die Neuzulassung der Juden in der Mark erreichte; er nutzte die allgemeine Betroffenheit, um eine Besserstellung der Juden insgesamt zu erzielen und ihnen in einer Zeit, wo sie im übrigen West- und Mitteleuropa so gut wie überall vertrieben wurden, ein Bleiberecht als »concives«, als Mitbürger, zu sichern, das fast 400 Jahre lang Bestand haben sollte – womit ein Begriff geprägt wurde, der bis heute als Bezeichnung für die unter Deutschen lebenden Fremden genutzt wird.
Stephen Tree
_Eröffnung: So 20. 6. 12 Uhr, dann täglich 10–17 Uhr
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