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»Das Gesicht des Gettos«
24.August 2010 | Beiträge – jüdisches berlin | Ausstellung, Gedenken
Der Historiker Dr. Ingo Loose über seine Ausstellung zu Bildern jüdischer Photographen aus dem Getto Litzmannstadt 1940–1944
Nach dem Überfall auf Polen im Herbst 1939 benannten die deutschen Besatzer die Industriestadt Łódź in Litzmannstadt um, richteten im Stadtteil Bałuty auf 4,13 km2 ein streng bewachtes Getto ein und pferchten dort über 160 000 Juden zusammen. Im Herbst 1941 wurden weitere 20 000 Juden aus Westeuropa, darunter 4200 Berliner, hierher deportiert. Zehntausende starben bis Sommer 1944 an Hunger und Krankheiten im Getto, die anderen wurden nach Kulmhof und später Auschwitz deportiert. In der Stiftung Topographie des Terrors ist bis zum 3. Oktober eine Ausstellung mit Bildern jüdischer Photographen aus dem Getto zu sehen. Judith Kessler sprach mit dem Ausstellungsmacher Dr. Ingo Loose.
Herr Dr. Loose, die meisten Bilder aus NS-Gettos wurden von Tätern aufgenommen. Nicht so im Fall Litzmannstadt. Wie kommt das?
Das Getto Litzmannstadt ist nach Warschau das größte und es ist das am besten dokumentierte Getto überhaupt. Es liegen große Sammlungen aus »Täterperspektive« vor – unter anderem eine mit 450 Farbdias des Deutschen Walter Genewein. In Litzmannstadt ist aber die Opferseite sogar noch stärker repräsentiert, dank der Überlieferung Tausender Akten der Getto-Chronik und Bildern, die im Auftrag der jüdischen »Selbstverwaltung« angefertigt wurden. Die Deutschen hatten einen »Judenältesten«, Mordechai Chaim Rumkowski, und einen »Judenrat« eingesetzt, der alle administrativen Aufgaben für die jüdische Bevölkerung übernehmen musste bis hin zur späteren Zusammenstellung der Deportationslisten. Unter anderem waren eben auch Tausende Passbilder für Kennkarten und Arbeitsausweise nötig. Und man wollte die Produktivität des Gettos für die deutsche Kriegswirtschaft herausstellen und ließ die Arbeitsressorts systematisch dokumentieren und photographieren, um die Deutschen vom Nutzen der jüdischen Arbeitskräfte zu überzeugen, was bis zum Sommer ‚1944 auch funktionierte. Die Produktion im Getto warf ja ansehnliche Gewinne ab: in erster Linie für die Heeresbekleidungsämter, aber auch für große Privatfirmen wie Neckermann, Leineweber oder das Hamburger Alsterhaus. Die ließen ihre Konfektion von Dutzenden Getto-Werkstätten mit jüdischen Zwangsarbeitern anfertigen.
Wie sind Sie zu diesen Bildern gekommen?
Neben Aufnahmen, die sich in verschiedenen Ländern befinden und meist auch schon in Ausstellungen und Publikationen zu sehen waren, besitzt das Staatsarchiv Łódź eine einmalige Sammlung, nämlich 27 Alben mit etwa 12 000 Kleinbild-Kontaktabzügen, die von den Photographen bereits im Getto angelegt und zum Teil nach Themen geordnet und beschriftet wurden. Wir sind im Zusammenhang mit der Arbeit am Gedenkbuch für die nach Litzmannstadt deportierten Berliner Juden darauf gestoßen. Dank der guten Qualität – die Photographen waren einfach Profis – ließen sich die Kontaktabzüge sehr stark vergrößern. In der Ausstellung ist nun eine Auswahl dieser Bilder zu sehen, die bisher so gut wie unbekannt sind.
Was ist auf den Bildern zu sehen?
Neben ihren Auftragsbildern haben die jüdischen Photographen eigentlich die ganze Lebenswelt des Gettos abgelichtet: Säuglingsstationen, Altenheime, Suppenküchen, religiöse Feste, Familienfeiern… und am häufigsten Kinder, die zu Schwerstarbeit missbraucht und am Ende meist deportiert und ermordet wurden. Die Photographen haben aber auch vieles aufgenommen, was streng verboten war, heimlich, aus Fenstern oder Hauseingängen: Hinrichtungen, Hungertote auf den Straßen, Leichen auf dem Jüdischen Friedhof bis hin zu den Deportationszügen.
Was wissen Sie über die Photographen?
Nur wenige sind namentlich bekannt, obwohl es sogar eine Photographen-Genossenschaft gegeben hat. Am meisten wissen wir über Mendel Grosman und Henryk Ross. Grosman war schon vor dem Krieg ein bekannter Photograph und musste 1940 mit seiner Familie ins Getto umziehen. Offiziell hat er Passbilder aufgenommen und privat alles, was ihm vor die Linse kam. Vor der Liquidation des Gettos 1944 konnte er noch 10 000 Negative verstecken, die aber zum großen Teil später verloren gingen. Er selbst wurde kurz vor der Kapitulation auf einem der Todesmärsche erschossen. Der zweite heißt Henryk Ross. Er kam aus Warschau und war vor dem Krieg Sportreporter und Pressephotograph. Wie Grosman arbeitete er für die Statistische Abteilung. Nach der Liquidation des Gettos gehörte er zum jüdischen Aufräumkommando und konnte sich und seine Bilder bis zur Befreiung verstecken. Ross ist 1956 nach Israel emigriert. Seine Bilder nahm er mit, einige sind jetzt in Yad Vashem, andere in Kanada.
Wie unterscheiden sich ihre Bilder von Täter-Bildern?
Zum einen in der Motivbreite, in dieser Mischung aus Auftragswerken und Privatem, dann in ihrer Empathie mit den Gettoinsassen – sie sind nicht von »oben herab« gemacht, sie bedienen die klassischen Ostjuden-Klischees nicht, die bei den Tätern gang und gäbe sind, und sie bewahren sich und den Abgebildeten Anstand und menschliche Würde. Ein Bekannter Grosmans erinnerte sich zum Beispiel daran, dass dieser ganz bewusst nicht photographierte, als einmal eine Familie einen Fäkalienwagen an ihm vorbeizog. Zugleich hat man den Eindruck, diese Photographen haben alles aufgenommen, aus dem Bedürfnis heraus, etwas dokumentieren zu müssen, was einem sonst niemand glauben würde. Die Photographen erzählen Geschichten und sie zeigen Individuen, derer man sich dank dieser Aufnahmen erinnern kann, auch wenn wir von den meisten nicht wissen, wer sie waren…
_bis 3. Oktober: »Das Gesicht des Gettos«. Stiftung Topographie des Terrors, Niederkirchnerstraße 8, 10963 Berlin, www.topographie.de
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