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Das Fest der Freiheit

01.März 2010 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage, Religion

Gedanken zu Pessach von Rabbiner Tovia Ben-Chorin

Pessach wird in der jüdischen Überlieferung als Fest der Freiheit bezeichnet. Sowohl im Kiddusch der Sedernacht als auch im Amidah-Gebet wird gesagt: »Und du gabst uns, Ewiger, unser Gott, diesen Tag des Mazzot-Festes, die Zeit unserer Freiheit«, wobei im Hebräischen Freiheit mit Cherut bezeichnet wird. Das Wort Cherut kommt im Tanach nirgends vor, und es fragt sich, ob es dort synonyme Begriffe dafür gibt. Wenn ja – warum hielten es unsere Weisen für angebracht, ein zentrales Ereignis in der Geschichte Israels, den Auszug aus Ägypten, die Geburt des Volkes, mit einem Begriff zu bezeichnen, der aus der damals modernen Sprache der Weisen stammt, und nicht mit einem Begriff aus dem Tanach? Unsere Weisen sagten in der Haggada: »Jeder Mensch muss sich selber so betrachten, als sei er aus Ägypten ausgezogen […]. Daher müssen wir dem danken, loben, preisen [...] wir wollen vor ihm Hallelujah sprechen.«

Dieser Abschnitt aus der Mischna in Pessachim erscheint in der Haggada – in leicht veränderter Lesart – als Einführung zu dem Abschnitt des Hallel, der noch vor dem Mahl gesprochen wird. Die Mischna beginnt mit dem Individuum – »Jeder Mensch muss sich selber so betrachten…« – und endet mit dem Kollektiv »wir wollen vor ihm Halleluja sprechen«. Wofür danken wir dem Schöpfer? Danken wir für die persönliche Befreiung aus der ägyptischen Unterdrückung oder weist das Wort Cherut auf eine Art der Freiheit hin, die im Tanach nicht erwähnt wird?

Im Tanach gibt es zwei Begriffe, die den Zustand von »Nicht-Unterdrückung« bezeichnen, die Begriffe Chofesch und D‘ror. Der erste ist ugaritischen und der zweite akkadischen Ursprungs.

Das Wort Chofesch bezieht sich in der Tora vor allem auf die Befreiung von Knechten. Der Knecht hat einen Herrn. Im Moment, da er befreit wird, ist er im Zustand von Chofesch, in dem er keinen Herrn mehr über sich hat. Es ist niemand mehr da, der sich um ihn kümmert oder der verantwortlich für ihn wäre. Es ist niemand mehr da, der ihn ständig beaufsichtigt, aber er ist gleichzeitig machtlos. Daher befiehlt die Tora: »Und wenn du ihn chofschi von dir schickst, sollst du ihn nicht mit leeren Händen schicken. Du sollst ihm mitgeben von deinem Kleinvieh, von deiner Tenne und von deiner Kelter; von dem, womit dich der Ewige, dein Gott, gesegnet hat, sollst du ihm geben. Gedenke, dass du Knecht warst im Land Ägypten und der Ewige dich ausgelöst hat; daher befehle ich dir heute diese Sache.«

Es ist klar, dass wir aus dem zuletzt erwähnten Vers (vielleicht aus der zweiten Hälfte des 7. Jh. v. d. Z.), der für »auslösen« die Wurzel Pdh verwendet, entnehmen können, dass Gott die Israeliten nicht in Chofesch führte, sondern befreite. Pdh bedeutet: befreien, erlösen, erretten.

Der Prophet Micha (2. Jh. v. d. Z.) sagt: »Denn ich habe dich aus dem Land Ägypten herauf geführt und aus dem Haus der Knechte befreit (pdh); ich habe vor dich gesandt Mosche, Aharon und Mirjam«. So befreite Gott die Israeliten aus der ägyptischen Unterdrückung; es fehlt uns aber noch der Begriff, der den Zustand bezeichnet, der dem Gegenteil der Knechtschaft entspricht.

Hundert Jahre nach Micha kommt der Prophet Jeremias und beschreibt einen wichtigen gesellschaftlichen Umsturz in den Tagen des judäischen Königs Zidkijah (597–586 v. d. Z.). Ungefähr ein Jahr von der Zerstörung des ersten Tempels (586 v. d. Z.) versucht Zidkijah, Jerusalem und Judäa durch eine politisch-religiöse Reform vor der Zerstörung zu retten, die durch die Babylonier droht. Der König schließt einen Bund »mit dem ganzen Volk, das sich in Jerusalem befindet, ihnen (den Mägden und Knechten) Freiheit (D‘ror) auszurufen. Es sollte jeder seinen hebräischen Knecht und jeder seine hebräische Magd entlassen (chofschi), damit keiner seinen jüdischen Bruder versklave«.

Die Fürsten und das Volk »hörten und schickten«. Nachdem sie die Knechte und Mägde aber nur entließen, sie aber nicht mit Gütern versehen hatten, die ihnen den Unterhalt sichern könnten, »unterdrückten sie sie [abermals] als Knechte und Mägde«. Der Zustand der Entlassenen entspricht in den Augen Jeremias der Machtlosigkeit, wie sie im Deuteronomium beschrieben wird. Auch wenn der Mann oder die Frau nicht mehr versklavt sind, kann man sie mit entlassenen Gefangenen vergleichen, die nach ihrer Entlassung über keinerlei finanzielle Mittel verfügen.

Bei Jeremias erscheint ein weiterer Ausdruck, der mit dem Gegenteil von Versklavung zu tun hat: D’ror. Dieser Ausdruck erscheint zum ersten Mal in ­Leviticus 25,10: »Heiligt das fünfzigste Jahr und ruft Freiheit (D‘ror) für alle Bewohner des Landes aus! Es sei Jowel, gelte für euch, jeder soll an seinem Erbbesitz und jeder zu seiner Familie zurückkehren.« Das heißt, dass es einmal in fünfzig Jahren geschah, dass nicht nur die hebräischen Knechte befreit wurden – die nach sechs Jahren Dienst in die Freiheit entlassen werden – , sondern auch die verkauften Felder und Häuser in den Besitz der ursprünglichen Eigentümer zurückkehrten. Unsere Weisen konnten daher nicht sagen: »Der uns von der Knechtschaft in D‘ror entließ«, da D‘ror eine juristische Angelegenheit ist, die sich einmal in fünfzig Jahren ereignete.

Nebenbei: Jeremias deutete an, dass die befreiten Knechte mit Besitz auszustatten sind, da als Ziel des Bundes zu Jerusalem angegeben wurde, »ihnen (den Mägden und Knechten) Freiheit (D‘ror) auszurufen«, was die physische Befreiung aus der Knechtschaft und die Rückgabe des wegen Verschuldung enteigneten Vermögens beinhaltet.

Hinzu kommt, dass der Zustand des Entlassenen (= chofschi) ein Zwischenstadium ist. Er hat zwar keinen Herrn mehr über sich, verfügt aber über keine finanziellen Mittel und die bürgerlichen Rechte und Pflichten gelten nicht für ihn. Dies kann man der Erzählung über den Krieg Israels gegen die Philister zur Zeit des Königs Saul (1025–1006 v. d. Z.) entnehmen. Der Philister Goliat, ein riesenhafter Krieger, fordert zum Kräftemessen mit einem Krieger aus dem Heer Sauls heraus. Der König und Israel geraten in Panik, es wird verkündet: »Den Mann, der ihn (Goliat) erschlägt, wird der König sehr reich machen; seine Tochter wird er ihm zur Frau geben und sein Vaterhaus wird er befreien (chofschi) in Israel.« Der Mann, der Goliat erschlägt, soll von den königlichen Steuern befreit werden; er steht über dem Netz an Verpflichtungen zwischen dem König und seinen Untergebenen.

Es gibt auch beim König den Zustand von Chofesch, in dem er seine königlichen Aufgaben nicht mehr erfüllen kann, respektive muss. Es wird über Usia, den König von Judah (785–733 v.d.Z.) erzählt, er sei aussätzig geworden. »Usia blieb aussätzig bis zum Tag seines Todes und er wohnte aussätzig im Haus der Freien (chofschit) […]; sein Sohn Jotam [war] über dem Haus des Königs und richtete das Volk des Landes.« Das Haus der Freien kann als Hospiz für Aussätzige verstanden werden, wo der König seine Zeit, befreit von allen königlichen Rechten und Pflichten, verbrachte – er war chofschi.

Nach dem Studium der Quellen in der Schrift wollen wir zu unseren Weisen zurückkehren. Die Versklavung in Ägypten war eine Gesellschaftsform, in der das Volk der Herrschaft Pharaos ausgeliefert war. Der Sklave hat kein Recht auf persönliche Wünsche. Die Weisen suchten einen Ausdruck, der das Gegenteil dieses Zustands der Sklaverei bezeichnete. Sie wollten eine Gesellschaft beschreiben, in der das Kollektiv von irdischer Herrschaft befreit ist, sich aber aus freiem Willen dem Schöpfer von Himmel und Erde unterwirft, also Gott.

Im ersten der zehn Gebote steht: »Ich bin der Ewige, dein Gott, der dich herausgeführt hat aus dem Land Ägypten, dem Haus der Sklaven.« Was ist das Gegenstück zum Sklavenhaus? Im Talmud wird der Schriftvers »die [Bundes-]Tafeln sind das Werk Gottes und die Schrift ist die Schrift Gottes, graviert (charut) auf den Tafeln«, wie folgt ausgelegt: »Rav Acha ben Jakob sagte: Kein Volk oder Sprache kann über sie (die Juden) regieren, da geschrieben steht ‚graviert (charut)‘; lese nicht ‚graviert‘ (charut), sondern ‚Freiheit‘ (cherut).«

Die Tora, die geistige Entwicklung des Menschen, ist die Alternative zur Sklaverei. Sklaverei ist gleichzeitig ein physischer und ein geistiger Zustand. Das Volk Israel, das genug Verfolgung und Exil erlitten hat, um nicht der Versklavung durch die Jagd nach übermäßigem Reichtum unterworfen zu sein, muss seine geistige Immunität durch die Tora und ihre Erfüllung bewahren. Die Alternative zur Sklaverei ist mit dem Weg der Tora, mit den zehn Geboten, verbunden. Nach der Tora leben heißt, geistige Sklaverei zu meiden. Wahre Freiheit (Cherut) ist ein Zustand der Gesellschaft. Gleich wie andere Völker war Israel versklavt, nämlich in Ägypten. Die Alternative, die durch den Auszug aus Ägypten geschaffen wurde, besteht im Zustand von gesellschaftlicher Freiheit. Dies bedeutet die Befreiung von irdischer Herrschaft und die freiwillige Unterwerfung unter den himmlischen König.

Der oben zitierte Abschnitt aus der Haggada, der aus der Mischna in Pessachim stammt, wendet sich zuerst an das Individuum, das sich so sehen muss, als sei es selber aus Ägypten ausgezogen. Es schließt sich den anderen Befreiten an. Um weitere Versklavung zu vermeiden, danken wir, alle Befreiten, alle Ausgelösten, dem Ewigen, der uns »aus der Sklaverei in die Freiheit führte.« Diese Freiheit ist mit Pflichten gegenüber dem befreienden Gott verbunden und gegenüber der Tora, die er verlieh.

Cherut ist ein Zustand der kollektiven geistigen Unabhängigkeit und der Unterwerfung unter den Schöpfer des Universums. Wer sich den Befreiten anschließt, beschleunigt den Prozess »aus der Sklaverei in die Freiheit.« Daher setzen wir uns zur Sedernacht in Gruppen an den Tisch, die versprechen, die Freiheit zu bewahren und welche die Erlösung ersehnen.

Das Fest der Freiheit