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Chessed – ein Pfeiler unserer Tradition

01.Mai 2023 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage

Gedanken zu Schawuot von Gemeinderabbiner Boris Ronis

Unsere Tora erzählt uns, wie Gott seine Engel zu Abraham entsandte, bevor sie ihre Reise nach Sodom und Gomorra fortsetzten, um die beiden durch Sünde verdorbenen Städte zu inspizieren und zerstören zu lassen.
Abraham, zu diesem Zeitpunkt beinahe ein Jahrhundert alt und gerade beschnitten, beschloss, sich auf eine Debatte mit Gott einzulassen, um die Städte zu retten. Wie ging er dabei vor? Er stellte Gott die Frage, wie viele rechtschaffene Menschen notwendig wären, um eine Stadt vor der Zerstörung zu schützen. Die Unterhaltung zwischen Abraham und Gott setzte sich fort, wobei die Anzahl der geforderten Gerechten immer kleiner wurde. Trotz seiner Bemühungen gelang nur Lot und seiner Familie die Flucht aus dem Sündenpfuhl. Doch derjenige, der in dieser Erzählung besonders fasziniert, ist Abraham. Denn sein Herz war erfüllt von unermesslicher Liebe zu seinen Mitmenschen, sogar zu jenen, die ausschließlich Böses taten. Deshalb wird uns Abraham in der Geschichte als jemand mit der größten Chessed, mit der größten Güte und Nächstenliebe, in seiner Seele und seinem Herzen in Erinnerung bleiben.
Diese Chessed zeichnete sich durch die Gastfreundschaft aus, die er jedem angedeihen ließ, sowie durch die Art und Weise, wie er mit seinen Mitmenschen umging. Er wurde und wird noch immer als herausragendes Vorbild angesehen, und aufgrund seiner Empathie ist dieser Funke der Chessed im jüdischen Volk nie erloschen.
Ein weiteres Beispiel für Chessed ist Ruth. Sie sorgt für ihre Schwiegermutter Naomi bis zu ihrer nahezu vollständigen Selbstaufopferung. Doch weshalb betrachten wir diese Erzählung während unseres Festes Schawuot? Inwiefern stehen die Gesetze der Tora in Verbindung mit Chessed? An unserem bedeutenden Festtag sollte man mehr denn je darauf achten, welche Verantwortung und Pflicht uns obliegt. Deshalb bietet Schawuot eine ausgezeichnete Gelegenheit, um innezuhalten und sich der jüdischen Geschichte zu widmen. Ich glaube nicht, dass es ein Zufall ist, dass dieser Festtag mit dem Buch Ruth verknüpft wird, das wir an Schawuot in der Synagoge rezitieren. Denn Ruth stammt von Lot ab, und obgleich bei sämtlichen Nachkommen von Lot die Chessed als verloren gegangen schien, ist sie bei Ruth wiedererwacht. Ruth, eine Moabiterin, eine vermeintliche Todfeindin Israels aus einem Volk, mit dessen Nachfahren ein Israelit niemals in Kontakt treten sollte, avancierte zur Stammmutter von König David.
Eigentlich warnt uns die Tora vor den Bewohnern Moabs und Ammons. Sie galten als schlimmere Völker als die Ägypter und alle unsere anderen Feinde zusammen. In der Wüste lehnten sie es ab, uns ihre Gastfreundlichkeit anzubieten, und aufgrund ihrer Vergehen ist es uns ewig untersagt, mit diesen Völkern Bündnisse zu schließen. Dennoch wurde eine Frau aus diesem Volk die Urgroßmutter des großen König David. Sie hatte eine Eigenschaft, die dieses göttliche Gesetz außer Kraft setzen konnte: Sie besaß Chessed.
Eine zentrale Mission im Judentum besteht darin, Gottes Eigenschaften nachzuahmen. Wenn wir erkennen, wie Er sich um uns sorgte, während wir in der Wüste waren und es uns an nichts fehlen ließ, streben wir danach, Seinem Vorbild zu folgen. Chessed ist ein Eckpfeiler des Judentums. Diesem hehren Prinzip folgte auch Ruth. Um ihrer Schwiegermutter Liebe zu zeigen, war sie bereit, alles aufzugeben: ihre Herkunft, ihre Sicherheit, ihre vertraute Umgebung und ihren Glauben. Sie sorgte für Naomi - und das nahezu bis zur absoluten Selbstaufopferung.
Es heißt, dass die Welt auf Güte, Mitgefühl und Fürsorge basiert. Matan Tora, die Tora-Übergabe, am Berg Sinai an die Kinder Israels, war ein außerordentlich bedeutsames Ereignis für uns und bildet das Fundament des Judentums. Wenn jedoch Güte in unseren Seelen fehlt, hat die Tora keine Grundlage und wir besitzen keine Zukunft. Ausschließlich durch Mitgefühl und Fürsorge können die Gebote und Verbote der Tora in unseren Seelen verankert werden. Der Talmud Jeruschalmi betont sogar, dass die Mizwot der Zedaka (Almosen) und der Chessed ebenso essenziell sind, wie alle sonstigen Mizwot der Tora gemeinsam. Mögen wir alle in unseren Herzen und Seelen Chessed und Zedaka als Fundament auf ewig beibehalten.  Chag Sameach!

Chessed – ein Pfeiler unserer Tradition