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Berliner Steppke und halber Husar

01.Mai 2010 | Beiträge – jüdisches berlin | Menschen

Rudolf Rosenberg, 1993 als Zuwanderer aus der Sowjetunion eingereist, ist eigentlich waschechter Berliner, mit ungarischer Mutter und russischem Vater. Im Mai wird der immer aktive Ehrenamtliche, der bereits diverse Gemeindeklubs mit aufgebaut hat, 85 Jahre alt.

Der Vater – Samuel Rosenberg, 1893 in St. Petersburg geboren – kam als russischer Soldat 1916 in österreichisch-ungarische Gefangenschaft. So lernte er in Budapest Rudolfs spätere Mutter kennen, eine ungarische Jüdin: Szerén (die man in Russland dann der Einfachheit halber Irina nannte). »Ich bin also zu 50 Prozent Ungar«, rechnet Rudolf Rosenberg, der unter anderem deswegen in Berlin geboren wurde, weil sein Vater an der ungarischen Revolution teilgenommen hatte, ausgewiesen wurde und nach einem Zwischenstop als Grubenarbeiter im Ruhrgebiet in Berlin gelandet war. Szerén war ihm aus Ungarn nachgereist und 1924 wurde geheiratet. Samuel Rosenberg eröffnete eine Schneiderwerkstatt, die mit sieben, acht Angestellten Mäntel und Sakkos herstellte – erst in der Memhardstraße 17, dann in der Münzstraße 20. Hier, hinterm Alexanderplatz, im Scheunenviertel, wurde Rudolf 1925 geboren und hier wuchs er auf. Nicht gerade eine feine Gegend wie das bürgerliche Wilmersdorf, wo er heute lebt.

Der kleine Rudi kannte jeden Stein im Kiez, die Prostituierten vor den Kneipen, die Arbeitslosen. »Ich bin mit meinem Roller immer bis zum Lustgarten gefahren«, manchmal auch zum Kaufhaus Tietz, wo man umsonst Schallplatten hören konnte, und ins Kino. Das Babylon war gleich um die Ecke, da hat er »Emil und die Detektive« gesehen, ging sonst aber lieber in eines der vielen kleinen Floh-Kinos, weil es da nur 10 Pfennig kostete und im Babylon 25. »Für 25 Pfennige gab’s am Alex bei Aschinger Würstchen mit Kartoffelsalat und soviel Brötchen, wie man essen konnte.«

1931 kam Rudi zur Schule – erst ging er in eine jüdische Privatschule in der Kaiserstraße, dann in die Große Hamburger Straße (»Das war eine Knabenschule, deswegen war ich beim Purimspiel immer die Esther«). Wegen Platzproblemen war seine Klasse aber in der Oranienburger Straße untergebracht, dort, wo Rudolf 75 Jahre später wieder ein und aus gehen wird, um »seinen« Veteranenklub zu leiten.

Rudolf Rosenberg ist ein wirklicher Zeitzeuge. Im August 1931 hat er miterlebt, wie bei einer Arbeiterdemonstration vor dem Babylon plötzlich Schüsse fielen. »Ich sah wie ein Polizist sofort umfiel und ein zweiter erst auf die Knie sank und dann umsackte«. Damals wusste niemand, dass einer der Mörder der spätere Stasi-Chef Erich Mielke war.

Er hat auch gesehen, wie die Stimmung kippte im Kiez. »Das war eine Arbeitergegend hier. Am Bülowplatz war das Karl-Liebknecht-Haus, der Sitz der KPD«, erklärt er. »Alle haben KPD gewählt, vor Wahlen hingen überall rote Fahnen… Und dann plötzlich… Hakenkreuze.« Er lächelt: »Die Berliner waren sparsam und haben die Hakenkreuze auf ihre roten Fahnen gemalt«. Nach den Fahnen ging es an die Menschen. Rudi erinnert sich, wie SA-Leute einem Ostjuden im Kaftan mit Streichhölzern den Bart langsam abbrannten und die Berliner zuguckten und niemand etwas unternahm.

Einige Male fuhr seine Mutter mit ihm nach Budapest, die Verwandten besuchen, Oma und Opa – sie alle wurden später in Auschwitz vergast. Ende 1935 war es dann mit Budapest und mit Berlin vorbei. »Im Dezember sind wir weg… in die falsche Richtung«, aber es gab keine andere. Die Aufenthaltserlaubnis der Eltern war abgelaufen. Sie hatten auch kein Geld mehr, nachdem sie auf Betrüger hereingefallen waren, die ihnen ein Visum für Costa Rica beschaffen sollten… Der Vater, der 20 Jahre zuvor Russland verlassen und dort keine Verwandten mehr hatte, kehrte nun mit seiner Familie in ein neues Land, die Sowjetunion, zurück. Rudolf war zehneinhalb. Er kam in Leningrad in eine deutsche Schule, weil er nur Deutsch und Ungarisch verstand, und besuchte das »Deutsche Bildungshaus«, wo er Erich Weinert und Ernst Busch, der ihn den »Berliner Steppke« nannte, kennenlernte.

1938 wurde sein Vater, der jüdische Schneidermeister, als »deutscher Spion« verhaftet. Das war absurd, aber man hatte einen jüdischen Kollegen in der Konfektionsfabrik aufgetrieben, der aussagte, der »Rosenberg hat gesagt, in Deutschland hätte er mehr Butter gegessen als hier«. »Das war Artikel 58, § 10 – antisowjetische Propaganda«, erklärt Rudi. Samuel Rosenberg wurde zu zehn Jahren Straflager im Fernen Osten verurteilt. Rudi blieb mit seiner Mutter allein.

Prof. Rudolf Rosenberg, Berlin 2010    Foto: Judith Kessler

Prof. Rudolf Rosenberg, Berlin 2010 Foto: Judith Kessler

Er lernte Elektriker. Als der Krieg begann war er 16 und ging als »Freiwilliger in die Kämpfenden Truppen«, so steht es in seinem Ausweis. »Ich war in einer Einheit, die mit Befestigungsanlagen beschäftigt war«, erklärt er. Wie seine Mutter war auch Rudi Rosenberg während der gesamten Blockade in Leningrad, beide überlebten.

Als der Krieg endlich vorbei war, arbeitete er bis 1947 als Elektrotechniker in einem Werk in Sibirien, machte nebenbei das Abitur und kehrte dann nach Leningrad zurück, um Anglistik zu studieren. Nach dem Studium wurde ihm ein Arbeitsplatz in Rjasan zugewiesen, als Dozent an der Pädagogischen Hochschule. Rudi holte die Mutter nach und den Vater, als der 1953 nach Stalins Tod rehabilitiert wurde. In Rjasan blieb Rudi bis zu seiner Ausreise 1993. Er heiratete (s)eine Studentin, er promovierte, lehrte Anglistik und Didaktik des Fremdsprachenunterrichts, war Lehrstuhlleiter und Dekan der Hochschule und 20 Jahre lang regelmäßig Gastprofessor an der PH Erfurt.

Als er nach dem Mauerfall mit dem Senatsprogramm für ehemalige Berliner zu Gast in seiner alten Heimat war, bot man ihm an, er könne sofort zurückkommen. Nachdem auch die Kinder (Rudi und Betti haben zwei Töchter und drei Enkelsöhne) einverstanden waren, ging die lange Reise des »Berliner Steppke« zu Ende. Wie wohl sein Vater die Entscheidung gefunden hätte? »Ich weiß nicht«, überlegt Rudi Rosenberg vorsichtig, »die Sowjetunion hat ihm mehr Leid bereitet als Deutschland. Er hat immer gesagt, Solschenizyns ›Ein Tag im Leben des Iwan Denisowitsch‹ wäre das reinste Sanatorium gewesen im Vergleich zu dem, was er erlebt hat«. Und er selbst? Hat er es bereut, zurückgekommen zu sein? – »Niemals. Es ging mir nie so gut wie jetzt, obwohl ich eine Professur hatte und ein schönes Gehalt.«

Gut geht es Rudolf Rosenberg sicher auch deshalb, weil er – nicht nur sprachlich – hier »in seinem Element ist« und ein ausgefülltes Leben hat, anerkannt ist, gebraucht wird. Der nun bald 85-Jährige gibt Deutschunterricht für Senioren, hält Vorträge und Seminare über Integration und Judentum, leitet seit über zehn Jahren mit seiner Frau Betti regelmäßig Seniorenfreizeiten der ZWST in Bad Kissingen, war und ist Vorstandsmitglied oder Vorsitzender diverser Vereine – des Klubs der Kriegesveteranen, des Veteranenklubs Ni Zachon, des Treffpunktes Achva.

Und gut geht es ihm, weil er ein paar besondere Eigenschaften besitzt: Optimismus, Diplomatie, Gelassenheit, einen feinen Humor und sanfte Autorität.

Damit »agitiert« er auch die zugewanderten Senioren, weil er nicht versteht: »Wie man so sitzen und nichts tun kann oder immer sofort ‹Perewod!› (‹Übersetzung!›) schreit, wenn einer mal Deutsch spricht«. Er erzählt, dass er zu Hause erst russisches Fernsehen installiert hat, nachdem seine Frau die Deutsch-Prüfung bestanden hatte und dass sie beide erst vor zwei Jahren zum ersten mal wieder in Russland waren, »und auch nur für vier Tage, weil meine Frau ein Klassentreffen hatte«.

Trotz aller Arbeit und aller Bemühungen als »Integrator« ist Selbstdarstellung nicht Rudolfs Ding. Deswegen kandidiert er auch nicht für die Repräsentantenversammlung, obwohl viele das gern sehen würden. »Ich finde auch außerhalb genug Arbeit«, meint er und die Mitglieder »seiner« Klubs können sich jeden Tag davon überzeugen.

Da er ein echter Berliner ist, erlauben wir uns, unserem Rudi auch echt berlinerisch noch recht lange viele »Hummeln im Hintern« zu wünschen.   Judith Kessler