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Berlin – Ecuador – New York – Berlin: Ursula Mamlok & Kippenheim – Manchester – Berlin: Julie Sassoon

05.November 2011 | Beiträge – jüdisches berlin | Gemeinde, Gedenken

Die diesjährige Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Novemberpogrome 1938

Die diesjährige Gedenkveranstaltung zum Novemberpogrom (9.11. 18 Uhr) ist geprägt von der musikalischen Auseinandersetzung mit den schrecklichen Ereignissen am 9./10. November 1938. Die zwei Komponistinnen – Ursula Mamlok und Julie Sassoon – haben eine besondere Beziehung zu Deutschland. Ursula Mamlok wird 1923 in Berlin geboren und muss ihre Heimatstadt 1939 verlassen. Sie emigriert gemeinsam mit ihren Eltern nach Ecuador. Ein Musikstipendium führt sie wenig später nach New York. Im Jahre 2006, 66 Jahre nach ihrer Auswanderung, kehrt sie in ihre Heimatstadt Berlin zurück. Die Beschäftigung mit der Pogromnacht hat sie in ihrem Stück »Rückblick: In Erinnerung ›Kristallnacht‹ 9. Nov. 1938« für Saxophon und Klavier verarbeitet. Ursula Mamlok hat mehr als 60 Werke sowohl für Orchester als auch für die verschiedensten Kammermusikbesetzungen geschaffen, Solostücke und Werke für Kinder. Ihre Vitalität und Energie drückt sich auch darin aus, dass sie am 9. November auf Konzertreise geht und daher nicht persönlich bei der Gedenkveranstaltung im Gemeindehaus anwesend sein kann. Dafür werden wir einen Einblick in ihre Musik und ihren Weg zurück nach Berlin durch den Film »Ursula Mamlok – Eine Komponistin kehrt nach Deutschland zurück« von Anne Berrini gewinnen.

Dass Julie Sassoon am 9. November hier bei uns im Gemeindehaus in Berlin spielt, ist ebenfalls keine Selbstverständlichkeit. Ihr Weg von Manchester nach Berlin ist lang und ihre Annäherung an Deutschland findet nur langsam statt. Dabei stammt Julie Sassoon aus einer deutsch-jüdischen Familie. Ihre Großeltern mütterlicherseits, die Wertheimers, kommen aus einem kleinen Dorf im Schwarzwald. Dort, in Kippenheim, war die Familie seit 400 Jahren zu Hause – bis die National­sozialisten jüdisches Leben auch in Kippenheim unmöglich machen. Nach­dem der Großvater im Novemberpogrom 1938 nach Dachau verschleppt wird, emigriert die Familie nach dessen Freilassung nach Großbritannien. Die zurückbleibenden Eltern der Großmutter werden über Gurs nach Auschwitz deportiert.     

 

Ursula Mamlok. Foto: Simon PaulyJulie Sassoon

Das Umfeld, in dem Sassoon aufwächst, ist geprägt von der Vergangenheit. Ihre Mutter, bereits in Manchester geboren, verinnerlicht die Flüchtlingsmentalität der Großeltern. Diese Mentalität und das Gefühl der Bedrohung bestimmen ihre Kindheit. Sie gibt es an ihre Tochter Julie weiter. Deutschland ist ein Schreckgespenst, das nicht erwähnt wird. Dennoch können die ehemaligen Flüchtlinge nicht anders als in ihrer Muttersprache Deutsch untereinander zu sprechen. Wenn sich die zerstreute Familie einmal im Jahr trifft, dann in der Schweiz. Das ist die größte Nähe, die sich die Wertheimers zu Deutschland erlauben und die gleichzeitig ihre Sehnsucht nach »Heimat« ein Stückchen stillt.

Als 18-Jährige wagt sich Julie zum ersten Mal nach Deutschland. Sie besucht Kippenheim. Eine unheimliche Erfahrung. Die Leute begegnen ihr feindselig. Die ehemalige Synagoge wird als Lagerraum genutzt. Vorerst erlischt ihr Interesse am Land ihrer Großeltern. Jahre später, zurück in Großbritannien, lernt sie eine junge Deutsche kennen. Eine enge Freundschaft entsteht und Sassoon beginnt über ihre deutsche Seite nachzudenken. Sie entscheidet sich, Berlin zu besuchen und ist begeistert von der Stadt. Berlin – Kippenheim, größer könnte der Gegensatz nicht sein. Sie findet, dass sie mit den Leuten in der deutschen Hauptstadt viel mehr gemein hat als mit Gleichaltrigen in England. Außerdem lernt sie Lothar kennen, einen Musiker aus Münster. Als sie schließlich ein Paar werden und zusammen eine Tochter haben, hat sie das Gefühl, alle Grenzen überschritten zu haben. Nach »Nie wieder Kippenheim!« hat sie jetzt deutsche Freunde, einen deutschen Mann, eine Tochter, die »halbdeutsch« ist. 2008 entscheidet sie sich mit Lothar und ihrer Tochter nach Berlin zu ziehen.

Sie hat sich nie als jüdische Musikerin begriffen, doch hier in Deutschland ist ihr bewusst geworden, dass ihrer Musik ein melancholischer Schmerz innewohnt. Hier beginnt sie diesem Teil ihrer Musik nachzuspüren. Obwohl eine gewisse Schwermütigkeit stets präsent war, hat sie diese musikalische Dimension erst in Deutschland klar identifiziert als einen Ausdruck für die Schatten der Vergangenheit.

Das Stück »New Life«, das sie am 9. November spielen wird, schreibt sie, als sie mit ihrer Tochter schwanger ist. »New Life« weist auf die Entstehung neuen Lebens in ihr hin und auf ihr neues Leben in Deutschland: Ein neues Leben trotz der dunklen Geschichte, die sie und ihre Familie mit dem Land verbinden. Sie kann und will der Geschichte nicht entkommen, aber sie kann etwas Neues entstehen lassen. Ihre Musik macht das deutlich. Und so merkwürdig es klingen mag: Deutschland hat Julies jüdische Seite gestärkt.

Sandra Anusiewicz-Baer