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Antisemitismusdebatte in Deutschland
23.Juni 2010 | Pressemitteilung | Politik
Die deutschen Medien und der neue Antisemitismus
von Klaus Faber
Am Anfang - zu Beginn des Jahres 2010 - gab es eine Auseinandersetzung über einen geplanten Auftritt von Norman Finkelstein in Berlin. Finkelstein ist ein bekannter Israel-„Kritiker“, „besser“ und genauer: ein erklärter jüdischer Israelfeind und bekennender Hisbollah-Sympathisant. Hisbollah ist eine ohne jeden Zweifel antisemitische, mit dem Iran politisch-militärisch verbündete Terrororganisation, die über ihren Hetzsender al-Manar z. B. Fernseh-Szenen verbreitet, in denen gezeigt wird, wie Juden - nicht Israelis - einem nicht-jüdischen Kind die Kehle durchschneiden, um das in einer Schale aufgefangene Blut für rituelle Zwecke zu verwenden. Diese Darstellung des alten, nicht erst im NS-Blatt „Der Stürmer“ gegen Juden erhobenen Ritualmordvorwurfs ruft selbst zum Judenmord auf, wie ihre Wirkung seit langem belegt.
Mehrere nicht-jüdische und jüdische Vereinigungen, darunter der (überwiegend nicht-jüdische) Koordinierungsrat deutscher Nicht-Regierungsorganisationen gegen Antisemitismus, hatten sich gegen die zunächst von der Grün-nahen Heinrich-Böll-Stiftung geplante Finkelstein-Veranstaltung und dann auch gegen die beabsichtigte Folgeunternehmung der Rosa-Luxemburg-Stiftung gewandt, die als neue Finkelstein-Plattform einspringen wollte, nachdem sich die Böll-Stiftung zurückgezogen hatte. Aufgrund der Proteste haben am Ende beide politischen Stiftungen den Finkelstein-Auftritt abgesagt.
Das führte zu einem von der taz veröffentlichten Artikel einer Israelin, die israelischen Einfluss für die von ihr in den Vorgängen gesehene Zensur gegenüber Finkelstein mitverantwortlich macht, einen Einfluss, der, so die Artikelautorin, auch durch eine neue israelische Holocaust-„Religion“ wirke. Diese Publikation war Anlass für eine von der Berliner Jüdischen Gemeinde in der Neuen Synagoge veranstaltete Podiumsdebatte über die „roten Linien“ zum Antisemitismus, an der sich, so die Einladung, vier Chefredakteure beteiligen wollten: Thomas Schmid, Herausgeber der Welt, Stephan-Andreas Casdorff, Chefredakteur des Tagesspiegels, Ines Pohl, Chefredakteurin der taz, und, als Moderator, Thierry Chervel, Chefredakteur des Onlinemagazins Perlentaucher. Die Debatte fand am Ende ohne die taz -Chefredakteurin Ines Pohl statt. Die Chefredakteurin solidarisierte sich mit der vor der Tür wartenden israelischen Autorin. Ines Pohl plädierte für die Forderung, die Israelin neben ihr auf dem Podium zu platzieren, damit sie dort, nicht nur aus dem Publikum heraus, mitreden könne.
Stephan Kramer, der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, hat sich in einem Interview im Focus vom 15. Mai, das die Auseinandersetzung weiter führt, zum Thema „Versteckter und offener Antisemitismus in deutschen Medien“ geäußert. Dieses Interview ist auf heftige Kritik eines Teils der Medien, u. a. der Süddeutschen Zeitung und des Tagesspiegels (dort durch Malte Lehming), gestoßen.
Um was geht es im aktuellen Antisemitismusstreit?
Wenn man die polemischen Teile der Diskussion und die Unterstellungen, die durch das Geschriebene oder Gesagte nicht gedeckt sind, einmal weglässt, sind insbesondere zwei Fragen erkennbar, die eine Rolle spielen: Gibt es einen jüdischen Antisemitismus? Und dann: Wo ist die Antisemitismus-Grenze, auch mit Blick auf die deutschen Medien, vor allem beim „neuen“, israelfeindlichen Antisemitismus zu ziehen?
Die beiden Fragen sind miteinander verschränkt, wie die vielen Fälle zeigen, in denen sich Israel-„Kritiker“ auf jüdische und sogar israelische Kronzeugen gegen Israel berufen.
Weshalb jüdische Menschen oder Menschen jüdischer Herkunft grundsätzlich unfähig sein sollten, antisemitische Positionen zu vertreten, ist, wie dies auch Lala Süsskind, die Vorsitzende der Berliner Jüdischen Gemeinde in einem Interview betont hat, nicht ersichtlich. Wieso sollten jüdische Menschen qua Herkunft gegenüber gesellschaftlichen Einflüssen und Ideologien, wie sie der Antisemitismus darstellt, immun sein? Hasserfüllte negative Bilder über eine angegriffene Minderheit werden manchmal von Angehörigen dieser Minderheit selbst übernommen, auch weil man sich davon, häufig zu Unrecht, eine Entlastung vom Außendruck verspricht. Nicht jedes Beispiel für eine jüdische Abneigung gegenüber der eigenen Gemeinschaft oder für eine distanzierte Haltung gegenüber Israel kann allerdings, was selbstverständlich ist, Selbsthass oder Antisemitismus belegen.
Wann überschreitet Israel-„Kritik“, von wem auch immer geäußert, die Grenze zum Antisemitismus? Es gibt den Definitionskatalog einer europäischen Behörde (EUMC) zum neuen, antiisraelischen Antisemitismus, den der Bundestag in einer von allen Fraktionen getragenen Entschließung vom 4. November 2008 übernommen hat und auf den übrigens auch die Chefredakteure des Tagesspiegels und der Welt in der Diskussion in der Neuen Synagoge zustimmend hinwiesen. Danach wird, als Indiz für Antisemitismus, unter anderem auf die Verwendung ungleicher Maßstäbe abgehoben, die nur auf Israel und sonst auf keinen anderen Staat angewandt werden. Wenn man sich die obsessive Einseitigkeit vor Augen hält, mit der Israel in zahllosen Resolutionen mancher UN-Gremien verurteilt wird, die nichts oder kaum etwas zu den Menschenrechtsverstößen des Sudan, der Islamischen Republik Iran, in Zimbabwe, Tschetschenien, Libyen, Syrien, in Tibet oder Sinkiang, in Kaschmir, Sri Lanka, Burma oder in Westneuguinea sagen, wird klar, was mit dem negativen Maßstab der „doppelten Standards“ zum Nachteil Israels gemeint ist. An diesem Maßstab müssen sich übrigens auch Medien, auch deutsche Medien, messen lassen.
Vielfach sind derartige Israel-Verurteilungen auch mit dämonisierenden Bildern über die angeblich umfassende Verschwörungsmacht der „Zionisten“, der „jüdischen Lobby“ oder schlicht „der Juden“ verbunden. Sehr deutlich trifft das etwa auf die Hamas-Charta zu, die die „Juden“ nahezu für alles im Hamas-Sinne Negative verantwortlich macht, auch für die Französische oder für die Oktober-Revolution. Hamas steht insoweit in der Traditionslinie der klassisch christlichen Judenhass-Vorstellung von den Juden als „Gottesmördern“ (obwohl dieser spezifische Christenvorwurf im traditionellen Islam nicht erhoben wird), die zwar verachtet werden, aber zugleich auf unheimliche Weise mächtig sind - und für die, anders als etwa für Sklaven, die man unterdrücken und ausbeuten, aber eben nicht töten will, die Vernichtung als nahe liegende Perspektive angedeutet oder offen deklariert wird. In ähnlichen Kategorien operiert ebenso die Hisbollah- und - wen kann es überraschen? - die Iran-Propaganda.
So offen und radikal begegnet uns der neue israelfeindliche Antisemitismus in den deutschen Medien nur selten. Mit ungleichen Maßstäben wird Israel dort aber häufiger gemessen. Können wir uns an heftige deutsche Medienproteste oder gar an eine allgemeine Medienkampagne zum öffentlichen Vorschlag Erdogans erinnern, die in der Türkei ohne türkische Staatsbürgerschaft lebenden Armenier in Massen auszuweisen, wenn weiterhin der Völkermordvorwurf wegen der Armeniermassaker im Ersten Weltkrieg erhoben werde? Wir können uns daran nicht erinnern, weil es derartige Proteste nicht gegeben hat. Was wäre wohl geschehen und in den deutschen Medien berichtet worden, wenn ein israelischer Ministerpräsident einen in Begründung und Dimension auch nur entfernt vergleichbaren Vorschlag für Massenausweisungen gemacht hätte?
Es ist gewiss sinnvoll, in den breiten Grauzonen vorsichtig mit dem Antisemitismusvorwurf umzugehen, der durch inflationären Gebrauch, da hat Malte Lehming vom Tagesspiegel Recht, leicht entwertet werden kann. Thilo Sarrazin, der sich manchmal merkwürdig auszudrücken pflegt, Antisemitismus vorzuwerfen, ist, um es freundlich zu formulieren, z. B. kein überzeugender Einfall. Stephan Kramer hat mit seiner Feststellung aber leider auch Recht, dass sich das Klima gewandelt hat, dass sich in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft, links, rechts und in der Mitte, wie auch Umfragen belegen, die Hemmschwellen für problematische Äußerungen und für antisemitische Positionen gesenkt haben - und dass heute Antisemitismus häufig in der Gestalt des Israelhasses auftritt. Der Bundestag argumentiert in seiner Resolution zur Antisemitismusbekämpfung vom 4. November 2008 übrigens ganz ähnlich, auch, in mehreren Erklärungen, die Bundeskanzlerin. Es wäre geradezu ein Wunder, wenn der deutsche Medienbereich - nach der Formel: was nicht sein darf, auch nicht sein kann - von diesen Entwicklungen ganz unberührt geblieben wäre.
Stephan Kramer hat ebenso Recht, wenn er, im Grauzonenbereich, auf merkwürdige Praktiken hinweist, etwa auf ein Bild im Tagesspiegel, das den amerikanischen Präsidenten im Gespräch mit orthodoxen Juden als Illustration zu einem Bericht über die anstehenden Friedensverhandlungen im Nahen Osten zeigt, als ob diese Juden für Israel repräsentativ wären und mit den Verhandlungen etwas zu tun hätten. In Wahrheit handelte es sich dabei, was Kramer aufklärt, um ein älteres Foto, das keinen Zusammenhang mit der aktuellen Berichterstattung über Friedensverhandlungen im Tagesspiegel aufweist, aber nach Kramers Auffassung in dem gegebenen Kontext Israel „als einen fanatischen Gottesstaat zeichnet“. Malte Lehming beschwert sich, Kramer nenne damit den Tagesspiegel, neben anderen Zeitungen, als „Beispiel“ für „Antisemitismus in deutschen Medien“. Das nimmt er zum Anlass, die Berechtigung des Vorwurfs und die Legitimation des Argumentierenden in Frage zu stellen. „Deshalb wird der Antisemitismusvorwurf oft nur noch als Teil der jüdischen Folklore wahrgenommen, ein bisschen wie Klezmer-Musik. Der Papst warnt vor Kondom und Pille … und die Juden warnen halt vor dem stets zunehmenden Antisemitismus. Ohne viel Gefühl für Relevanz und Proportionen ziehen sie in symbolische Schlachten, auto-immunisiert gegen die Realität. Frei nach Asterix lautet das Resümee: Die spinnen, die Juden, jedenfalls einige, jedenfalls manchmal“, so abschließend Lehming in Tagesspiegel.de.
Manchmal sind die Antisemitismus-Tatbestände eindeutiger zu qualifizieren. Wer mit dem Hisbollah-Sympathisanten Finkelstein sympathisiert, muss wissen, mit wem er es zu tun hat. Das gilt jedenfalls für politisch Aktive und für Journalisten. In anderen Zusammenhängen gibt es eher Zweifel und Grauzonen.
Manchen Fragen muss man sich allerdings stellen: Soll, vor dem Hintergrund der internationalen Delegitimierungskampagnen gegen Israel, die häufig die Antisemitismusgrenze überschreiten, der Iran-, Hisbollah- und Hamas-Agitation, der Brandstiftung in Worms und der allgemeinen Verbreitung der neuen antiisraelischen Antisemitismus-Positionen, die Antisemitismusbekämpfung tatsächlich nur noch als „Teil der jüdischen Folklore“ wahrgenommen werden? Und wenn das nicht so gemeint war und ist, besteht nicht Anlass zu einer Klarstellung?
Klaus Faber, Staatssekretär a. D., ist Rechtsanwalt und Publizist in Potsdam sowie Geschäftsführender Vorsitzender des Wissenschaftsforums der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e. V. und Vorstandsmitglied im Koordinierungsrat deutscher Nicht-Regierungsorganisationen gegen Antisemitismus e.V.. Er ist Verfasser zahlreicher Beiträge u. a. zu bildungs- und wissenschaftspolitischen Fragen, zur Föderalismus- und Verfassungspolitik, zu Nahost-, Menschenrechts- und Antisemitismusthemen; Publikation u. a. (als Herausgeber mit Julius H. Schoeps und Sacha Stawski) des Sammelbandes „Neu-alter Judenhass“ (Verlag Berlin-Brandenburg, 2. Aufl., 2007).
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