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Angst, Jubel und Neuanfang
01.Mai 2007 | Beiträge – jüdisches berlin | Gedenken, Menschen
Am 8./9.Mai jährt sich der »Tag der Befeiung«. Gleich nach Kriegsende haben sich in Deutschland und der Sowjetunion zwei jüdische Paare kennen gelernt, die unlängst in unserer Gemeinde beide ihre Diamantene Hochzeit gefeiert haben. Wir wollten von den Vanderbilts und Schlafsteins wissen, wie sie den Krieg und die Befreiung erlebt und wie sie sich gefunden haben.
Günther & Ilse
Günther Vanderbilt, dessen Familie ursprünglich aus Holland stammt, wurde 1927 in Hamburg geboren (was man heute noch hört). „Dass wir Juden sind, habe ich erst erfahren, als wir zu einer biometrischen Messung mussten“, erzählt er. „da wurden unsere Schädel vermessen und mein Vater hat mich aufgeklärt, was es damit auf sich hatte.“
1938 wird sein Vater von der Gestapo abgeholt. Er kommt nie wieder. Niemand weiß genau, was mit ihm passiert ist. Seine Mutter, sagt Vanderbilt, heiratete dann, wie man ihr nahe gelegt hatte, einen „Arier“, um sich und ihre beiden Kinder zu schützen. Günthers Traum, später mal Medizin zu studieren, rückt zwar in weite Ferne, da er als Jude nicht mehr auf eine Realschule gehen darf. Aber immerhin kann er auf der Rostocker Werft anfangen, Schiffsbau zu lernen. Doch schon bald „musste ich in einem extra Abteil zur Lehrstätte fahren, die Anderen durften nicht mehr mit mir reden.“
1942 wird der 15-jährige verhaftet – eine Odyssee beginnt: Polizeigefängnis, Jugendgefängnis, Festungshaft in Köslin und endlich ein Salzbergwerk bei Staßfurt. Fast eintausend Meter unter der Erde muss Günther zusammen mit anderen jüdischen Gefangenen schwere Loren schieben. Viele der Älteren brechen zusammen und sterben in dem Bergwerk. Die Verpflegung ist miserabel, die Gefangenen stehlen gefrorenen Rosenkohl von den Feldern. Günther wird jahrzehntelang keinen Rosenkohl mehr sehen können, ohne an diese Zeit zu denken. Als die Amerikaner kommen, ist er 18 Jahre alt und wiegt 87 Pfund.
Wie das bei der Befreiung war? Nein, kein Jubel. „Dafür waren wir zu schwach“, und „wir hatten Angst, wir wussten doch nicht, was jetzt kommt. Ich hatte vorher auch noch nie einen schwarzen Soldaten gesehen.“
Die US-Soldaten bringen die völlig entkräfteten Männer nach Nürnberg, da werden sie aufgepäppelt und anschließend zur Kur in die Berge geschickt. Als diese Zeit um ist, geht Günther Vanderbilt nach Fürth, weil er dort Arbeit in einer Brillenfabrik bekommen kann. Hier lernt er Fräulein Meier kennen, die in der Kantine der Fabrik arbeitet: seine Ilse.
„Ich kam nicht zurecht. Ich stand neben mir. Ich hab mich nicht getraut, darüber zu reden“, erinnert sich Vanderbilt. „Ich kam mir vor, als wenn ich aus dem Gefängnis käme, wie ein Verbrecher.“ Die fünf Jahre ältere Ilse nimmt sich des verstörten jungen Mannes an. „Ohne sie wäre ich verlottert – sooone Löcher in den Strümpfen“, zeigt er lachend. Ilse hilft ihm, wäscht seine Wäsche, und allmählich wird mehr daraus.
Im April 1947, Günther ist noch nicht 20, heiraten die beiden. Er trägt einen Anzug aus einer abgelegten amerikanischen Uniform, Ilses Blumen gehören dem Fotografen und sind aus Stoff. „Es gab doch nichts“. Dass ihnen das Standesamt einen Melkschemel zur Hochzeit geschenkt hat, amüsiert den fast 80-jährigen mit den lustigen Augen noch heute. „Die Amis haben uns Butter, Zucker und Mehl für einen Kuchen geschenkt zur Hochzeit. Also bin ich zum Schwarzmarkt nach Nürnberg, um einen Belag für den Kuchen zu kaufen. Einer bot mir Apfelsinen an, fünf Mark das Stück. Ich dachte, na gut, was soll ich machen. Aber plötzlich tauchte Militärpolizei auf und die Händler stoben wie nichts auseinander. Und meiner ließ seinen Rucksack fallen. Den hab ich mir geschnappt und da wir hatten Apfelsinen für zehn Kuchen. Das war unsere Hochzeit“.
Und die Liebe? „Ach Liebe. Ich hatte doch keine Ahnung, was das ist, nach der ganzen Zeit im Lager... Wir sind allmählich zusammengewachsen.“
Wegen der Heirat bekommt das Paar eine kleine Wohnung. „Da haben wir auf dem Schreibtisch geschlafen, es gab kein Bett. Unser Nachbar war Hans Albers, der lag manchmal betrunken im Waschzuber auf dem Hof.“ Noch im selben Jahr bekommt Günther eine Stelle in Hamburg bei der Werft und die beiden ziehen um: „Wir fuhren auf einem Güterwagen oben auf den Kohlen. Die Fahrt hat vier Tage gedauert. So war das damals.“
Vanderbilt schließt in Hamburg seine Berufsausbildung ab. 1949 wird die Tochter Jutta geboren. Ende der 50er Jahre wechselt er an die Schiffsbauversuchsanstalt Berlin. Aber die Torturen im Krieg haben gesundheitliche Folgen. Er erlernt einen neuen Beruf, geht in die Gastronomie und arbeitet auch etliche Jahre in der „Arche Noah“ im Gemeindehaus, bis er wegen seiner Schwerbeschädigung auf Frührente gesetzt wird.
Heute sind Günther und Ilse Vanderbilt 60 Jahre verheiratet. Nein, sie haben es nicht bereut. „Auch wenn ich es meiner Ilse nicht immer leicht gemacht habe.“ Und das Rezept für eine so lange Ehe? „Ehrlichkeit“ sagt Vanderbilt, „immer klar Schiff machen“.
Die Vanderbilts leben heute von einer Minirente. Ilse kann das Haus leider nicht mehr verlassen. Der trotz vieler Operationen agile und immer positiv denkende Günther ist seit vielen Jahren ehrenamtlicher Betreuer in seinem Bezirk Wilmersdorf und geht immer noch regelmäßig Jubilare besuchen. Das Bezirksamt schickt 30 Euro zur Ausrichtung der Feier zur Diamantenen Hochzeit.
Miron & Elisaweta
Miron und Elisaweta Schlafstein sind in diesem Jahr 60 Jahre miteinander verheiratet. Beide, 1923 und 1925 geboren, stammen aus Odessa und sind 1987 nach Berlin eingewandert.
Miron ist der einzige Überlebende seiner Familie. Die vier Brüder und die Eltern wurden von den Deutschen ermordet, wenige Tage nachdem der 17-jährige Miron in Odessa einen Bombensplitter abbekommen hatte und in ein Krankenhaus nach Stalinobad in Tadschikistan evakuiert worden war. Nach seiner Genesung schickte man ihn in die Nähe von Moskau, wo er in einer Fabrik als Fräser eingesetzt wurde und Munition und Gewehre herstellte. Im April 1944 wird Odessa befreit. Miron kehrt zurück und erfährt erst jetzt, dass seine ganze Familie tot ist. „Ich kam in unsere Wohnung. Alles leer… da waren fremde Leute, sie haben mir die Bilder hier gegeben“, er weist auf die Porträts seiner Eltern an der Wand – „das ist alles, was mir geblieben ist.“ Die Einzelheiten erfährt er erst nach und nach – dass sein älterer Bruder aus der Kriegsgefangenschaft fliehen konnte, nach hause zurückgekehrt war und dann mit den anderen zusammen erschossen wurde, dass sein Vater, ein Ballettmeister, zwar noch mobilisiert, aber nicht bis zur Front gekommen war, weil das Schiff mit dem er fuhr, die „Lenin“, vorher getroffen und versenkt wurde.
Wie war das, als die Nachricht in Odessa eintraf, dass der Krieg aus ist? „Bei uns war ja Nacht, die Nacht vom 8. zum 9. Mai 1945“, erzählt Miron Schlafstein. „Auf der Straße hingen überall Lautsprecher. Da hat man es durchgesagt. Die Leute rannten alle sofort aufgeregt auf die Straße und küssten und umarmten sich“.
Elisaweta, Miron Schafsteins Frau, hat das Kriegsende ähnlich wie er erlebt. Sie war mit ihrer Mutter – der Vater war schon vor dem Krieg gestorben – und zwei kleinen Brüdern aus Odessa nach Kasachstan in Mittelasien evakuiert worden. Sie erinnert sich: „Oj oj, das war so schön, alle sind zusammen gelaufen, alle Nachbarn, und haben sich geküsst und gejubelt, es war solch eine Freude.“ Sie hätten Gott gedankt, dass sie noch lebten, aber auch gleich an die beiden großen Brüder denken müssen, die beide gefallen sind.
1946 kam Elisaweta zurück nach Odessa. Miron war schon da. „Wir wohnten in derselben Straße, ich Nr. 86, er Nr. 106. Wir kannten uns aus der Kindheit. Plötzlich stand er wieder vor mir. Wir haben uns gesehen… und nach einer Woche geheiratet.“ So schnell? „Na ja, meine Mutter ist noch zu einem Nachbarn gegangen, der hat an der Ecke mit Sonnenblumenkernen gehandelt“, erzählt Elisaweta, „und den hat sie ausgefragt, was Miron für einer sei. Und der hat gesagt: ’ein wunderbarer Kerl’. Und ich hatte keine Wohnung...“ „Und ich war allein“, ergänzt Miron, „und bekam einen Teil unserer alten Wohnung zurück, und sie war da, und wir kannten uns doch schon von früher…“.
Haben sie die schnelle Entscheidung jemals bereut? „Nein!“, antworten beide entschieden. „Es gibt keine Familie, in der alles glatt läuft“, sagt Miron Schlafstein, „man muss aber die Differenzen beseitigen können.“ Und „wir unterstützen uns gegenseitig – ich sehe nicht gut, er hört nicht gut“, sagt seine Frau.
Die Schlafsteins sind heute wieder eine große Familie, 1948 und 1955 wurden ihre beiden Söhne geboren, sie haben vier Enkel und bereits drei Urenkel. Miron hat sein ganzes Leben als Mechaniker und Fräser gearbeitet und Elisaweta als Buchhalterin. Hier in Berlin hat sie sich dann um die Familie gekümmert, er hat noch einige Jahre alte Uhren und Ikonen restauriert und etwas dazu verdient. Das Kunsthandwerk war immer sein Hobby. Die Intarsienarbeiten, historischen Standuhren und barocken Kronleuchter, die er gebaut hat, füllen die ganze Wohnung der Schlafsteins. „Das ist mein Museum“, sagt er ein wenig stolz. Das Hobby seiner Frau sind eher die Enkel und Urenkel. „Ich will noch erleben, wie unser jüngster Enkel unter der Chuppa steht“.
Judith Kessler/Moses März
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