Beitragssuche
275 Stunden mit Adolf Eichmann
01.November 2012 | Beiträge – jüdisches berlin | Gesellschaft
Das Tagebuch des Eichmann-Verhörers Avner Werner Less
Bettina Stangneth wurde auf ihn aufmerksam, weil zwischen den 3 564 (!) Seiten Abschrift des Verhörs, das Avner Werner Less zwischen Mai 1960 und Januar 1961 mit Adolf Eichmann geführt hatte, ein Notizzettel steckte, der sie neugierig machte. »Lüge!!! alles Lüge!!!« stand darauf, weiter nichts. Wer war der Mensch hinter dem israelischen Polizeihauptmann mit dem Pokerface, der, 1987 in der Schweiz verstorben, sein geplantes Buch über den Organisator des Holocaust selbst nicht hatte fertigstellen können? Der Mann, der Eichmann 275 Stunden lang allein gegenübersitzen und seine Ausflüchte anhören musste, dessen eigener Vater deportiert worden war, der in seiner Freizeit romantische Gedichte schrieb?
Reden durfte dieser Werner Avner Less über seine Gespräche in der Zelle nicht. Less schrieb auf, sehr präzise und klug, was ihn bewegte, was er an sich und an Eichmann beobachtete. Die Historikerin Stangneth hat diese Aufzeichnungen nun mit Interviews, die sie mit Sohn und Freunden von Less führte, in einem Buch zusammengefasst (Less, Avner Werner/Stangneth, Bettina: Lüge! Alles Lüge! Arche Literaturverlag 2012, 352 S., 19,95).
Eichmanns Gegenüber – Werner Less – wurde 1916 in Berlin geboren, ging in Charlottenburg zur Schule und musste mit 17 vor den Nazis fliehen, ohne Abschluss und ohne Studium. In Paris machte er einen Kurs als Damenfriseur, lernte seine Frau Vera kennen und ging mit ihr nach Palästina, wo die Kinder Dorit und Alon geboren wurden. In Israel avancierte Werner (nun Avner) Less zum Spezialisten für Wirtschaftskriminalität. Als Eichmann im Mai 1960 festgesetzt wurde, suchte man den Polizeioffizier aus, den Angeklagten bei der Voruntersuchung (für die eine eigene Einheit gebildet wurde, das »Büro 6«, dessen Mitarbeiter Tausende Dokumente sichteten und hunderte Zeugenaussagen hörten) mit dem Ermittlungsmaterial zu konfrontieren und ihn zum Reden zu bringen.
Adolf Eichmann sah dann in dem knappen Jahr bis zum Prozessbeginn nur das Wachpersonal (das nicht Deutsch sprach), den Polizeiarzt – und eben Less. Und wenn der kam, schien Eichmann fast glücklich. Sein Blutdruck normalisierte sich augenblicklich (»Ich wirke auf ihn wie eine Beruhigungspille«, schreibt Less), und er lechzte danach, endlich reden zu dürfen. Less ermutigte ihn. Er nannte ihn »Herr Eichmann«, bot ihm Zigaretten an und sprach mit ihm »stundenlang im Plauderton über die erschütternsten Ereignisse unserer Zeitgeschichte«.
Viele seiner Kollegen konnten das nicht verstehen und gingen Less nun aus dem Weg. Doch war es nicht Selbstverleugnung oder ein einsetzendes »Stockholm-Syndrom«, sondern Kalkül (auch in Heinar Kipphardts »Bruder Eichmann« fühlte Less sich falsch dargestellt, an Eichmann sei absolut nichts »brüderlich« gewesen). Less entschied sich sehr bewusst dafür, dem ausgebufften, aalglatten Eichmann mit ausgesuchter Höflichkeit und Korrektheit zu begegnen und seine Wachsamkeit einzuschläfern. Eichmann tappte prompt in die Falle. Je mehr er redete, je sicherer er sich fühlte, um so mehr verriet er sich. Von seinem Gegenüber verlangte diese Strategie einen enormen Kraftaufwand und ein Höchstmaß an Selbstkontrolle. Seinen Ekel konnte und wollte Less niemandem vermitteln. Das machte ihn zum Schweiger und Einzelgänger. Nur in seinen privaten Notizen leistete er sich Emotionen: »What a rotten swine«, schreibt er am 20. September. Doch in der Verhörzelle bleibt seine Stimme immer sanft und ruhig, wie Stangneth beim Abhören der Tonbänder feststellt.
Der eklatanteste Beweis für das Zutrauen, das Eichmann auf diese Weise zu Less gewann (wie für sein Wahrnehmungsdefizit), mag diese Episode sein: Eichmann fragt Less eines Tages, ob er ihn etwas Persönliches fragen dürfe, und dann, ob er noch Geschwister und Eltern habe. Less antwortet und sagt ihm auch, dass Eichmanns Referat seinen Vater in einem der letzten Transporte in den Osten deportiert hat. Urplötzlich begreift Eichmann wohl, dass er den netten Less völlig falsch eingeschätzt hat, und stammelt: »Aber das ist ja entsetzlich, Herr Hauptmann!«
Less hatte Eichmanns Rollen da schon lange durchschaut. Erst gab er den »reumütigen Sünder« und dann, als sich das Beweismaterial erdrückend vor ihm auftürmte, die »unbedeutende Schachfigur, die »winzige Schraube«, das »unschuldige, willenlose Werkzeug«. Eichmann versuchte immer wieder zu leugnen, dass er ein zentrale Figur bei der systematischen Ermordung der Juden war. An allem waren Vorgesetzte oder Untergebene schuld. »Dokumente? Gefälscht! Briefe, von ihm unterschrieben – wurden ihm diktiert. Seine Untergebenen? Handelten hinter seinem Rücken ohne oder gegen seinen Willen.« Kurz: »Er war der Apfel, die anderen waren die Schlange.«
Auch dass Eichmanns Äußeres so unscheinbar war, deutete Less als einen Moment, der ihn gefährlich gemacht habe: sein innerer Drang, jemand zu werden – der verkrachte Ingenieur mit Minderwertigkeitskomplex, der sich zum Judenspezialisten weiterbildete, um seinen Vorgesetzten aufzufallen. Bei allem war er ein begnadeter Mime, dessen Servilität ebenso Camouflage gewesen sei wie das schlechte Gedächtnis. »Er irrte sich nur dort, wo es ihm nützlich schien« und »alles, was ihn belasten kann, verfällt einer Amnesie...«. In Wahrheit hatte Eichmann ein »blendendes Gedächtnis« und Less erlebte ihn als intelligent, kalt, humorlos, eitel und fanatisch – einen besessenen Opportunisten, der genauso gründlich, systematisch und ordentlich seine Zelle putzte wie er das Ausrotten von Menschen betrieb.
Avner Werner Less hat Hannah Arendts Bericht nicht nachvollziehen können, er befand, dass sie, die Eichmann nur im Prozess erlebt und als »Hanswurst« bezeichnet hatte, ihm »auf den Leim gekrochen« war. Ihren Topos von der »Banalität« (des Bösen) las er als Formel zur kollektiven Entlastung der deutschen Akademikerschaft. Und doch hätten alle mitgemacht und war Eichmann »die Quintessenz des aktiven Schreibtischmörders, einer von den Nazis ausgelösten Kettenreaktion deutscher Erziehung«.
Und Werner Less selbst? Macht über Menschen auszuüben – das war seine Sache nicht. An Eichmanns Abhängigkeit fand er nichts Positives. Nach dem ersten Verhör notierte er: »Er, der Judenjäger in den Händen der Juden! Welche Ironie des Schicksals. Komisch, ich fühle mich gar nicht erhaben bei diesem Gedanken... Ich spüre keinen Hass, eher tiefe Traurigkeit.«
Von Less ist vieles zu lernen und an ihm vieles zu bewundern. Zum Beispiel, dass es zu seiner Weltsicht gehörte, über den eigenen Tellerrand zu schauen (so befand er es als »ungeheure Schande für das demokratische Deutschland, dass bis zum heutigen Tag die ebenfalls unverzeihlichen Verbrechen und Massenmorde an den Zigeunern nicht gesühnt worden sind.«) und dass ein Verharren in Hass und Zorn lähmt, fatale Hierarchien fortsetzt und den Opfern nicht hilft. Wie übermenschlich schwer eine gegenteilige Haltung sein kann, welche Gefühle in ihr mitschwingen können, lässt sich aus den Notizen des Prozessbeobachters und späteren Schriftstellers Harry Mulisch erahnen: »Auch wer nicht Katholik oder Freudianer ist, spürt das Band zwischen beiden Männern. Eichmann ganz links auf der Bühne, Less ganz rechts.… Ich wüsste so schnell keine tragischere Situation. Zwei Männer – der eine hält den anderen gefangen, zufällig ist er seinerzeit nicht vom anderen zur Schlachtbank geführt worden. Sie sprechen ... seit einem Dreivierteljahr täglich stundenlang miteinander. Dann entsteht etwas, was natürlich nie mit einem Wort gestreift wird – aber sie träumen voneinander … Tagsüber versuchen sie, sich gegenseitig zu fangen, zu überlisten, zu schmeicheln, zuzusetzen – aber sie sind nie mehr ohne einander ... Und nun sehen sie sich auf der Bühne wieder … Dann und wann schauen sie sich an. Es ist entsetzlich.«
Judith Kessler
jüdisches berlin
2012_24 Alle Ausgaben
- Dezember 2024
- November 2024
- Oktober 2024
- September 2024
- Juni 2024
- Mai 2024
- April 2024
- März 2024
- Februar 2024
- Januar 2024
- Dezember 2023
- November 2023
- Oktober 2023
- September 2023
- Juni 2023
- Mai 2023
- April 2023
- März 2023
- Februar 2023
- Januar 2023
- Dezember 2022
- November 2022
- Oktober 2022
- September 2022
- Juni 2022
- Mai 2022
- April 2022
- März 2022
- Februar 2022
- Dezember 2021
- November 2021
- Oktober 2021
- September 2021
- Juni 2021
- Mai 2021
- April 2021
- Januar 2018
- März 2021
- Februar 2021
- Mai 2020
- Januar 2021
- Dezember 2020
- November 2020
- September 2020
- Oktober 2020
- Juni 2020
- April 2020
- März 2020
- Februar 2020
- Januar 2020
- September 2019
- November 2019
- Juni 2019
- Mai 2019
- April 2019
- März 2019
- Februar 2019
- Dezember 2018
- Januar 2019
- Mai 2015
- November 2018
- Oktober 2018
- September 2018
- Juni 2018
- Mai 2018
- April 2015
- März 2015
- März 2018
- Februar 2017
- Februar 2018
- fileadmin/redaktion/jb197_okt2017.pdf
- September 2017
- Juni 2017
- April 2017
- November 2017
- Januar 2017
- Dezember 2016
- November 2016
- Oktober 2016
- September 2016
- Juni 2016
- Mai 2016
- April 2016
- März 2016
- Februar 2016
- Januar 2016
- Dezember 2017
- Dezember 2015
- November 2015
- September 2015
- Juni 2015
- Oktober 2015
- Februar 2015
- Januar 2015
- Dezember 2014
- November 2014
- Januar 2022
- Oktober 2014
- September 2014
- Juni 2014
- Mai 2014
- März 2014
- Februar 2014
- Januar 2014
- Dezember 2013
- November 2013
- Oktober 2013
- Juni 2013
- Mai 2013
- April 2013
- März 2013
- Februar 2013
- Januar 2013
- Dezember 2012
- November 2012
- Oktober 2012
- September 2012
- Juni 2012
- Mai 2012
- April 2012
- März 2012
- Februar 2012
- Januar 2012